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SPECIAL zu Lisa See

Hungriger Geist

Rezension von Sabine Schmitt

Die chinesische Kultur ist erfüllt von Geistern und übernatürlichen Wesen. Für die Menschen sind sie nichts Außergewöhnliches, sondern ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Dies zeigt sich beispielsweise in der chinesischen Architektur, der Art und Weise wie Dörfer und Städte geplant worden sind. Wege, die durch eine Stadt hindurchführen, sind selten gerade. Ständig wechseln sie die Richtung: Der tiefere Sinn dahinter ist der Schutz vor bösen Geistern. Für die lästigen Verfolger stellen Ecken ein unüberwindbares Hindernis da, sie können den Menschen so nicht nachstellen.

Die Geisterwelt erforschen
„I really wanted to look at those ghostworlds“, sagte Lisa See, Autorin von vier weiteren Romanen, darunter Tod am Jangtse und Der Seidenfächer, unlängst in einem Interview. Der Geisterwelt gilt ihr Interesse. Mit ihrem neuen Werk taucht sie tief darin ein, um nachzuspüren, wie durchlässig die Sphäre zwischen Leben und Tod ist. Die Autorin selbst stammt aus einer chinesisch-amerikanischen Familie, in der – wie sie sagt – der Geisterglaube tief verwurzelt ist. Genau diese Sphäre versucht ihre Romanheldin in Eine himmlische Liebe immer wieder zu überwinden. Allerdings nicht als Lebende, sondern – als Geist.

Blühende Pfingstrose
Mudan (chinesisch für Pfingstrose) ist ein schönes junges Mädchen, das streng behütet in einer wohlhabenden Familie aufwächst. Was wie eine ideale Ausgangsposition für ein glückliches Leben klingt, stellt sich schon früh als Hemmnis heraus. Mudan lebt nämlich im China des 17. Jahrhunderts zu Beginn der Qing-Dynastie. Gerade haben die Mandschu, ein Volk aus der Mandschurei, den chinesischen Kaiser gestürzt und weite Teile der Bevölkerung unterjocht. Viele wurden dabei verletzt oder gar getötet.

Goldene Lilien
Als Zeichen ihrer Privilegiertheit aber auch Unfreiheit, trippelt Mudan auf winzigen Füßen, so genannten „goldenen Lilien“, durchs Leben. Ihr Bewegungsradius ist nicht nur aufgrund ihrer gebundenen Füße eingeschränkt, als Frau darf sie die inneren Gemächer nicht eigenmächtig verlassen. So weiß Mudan nichts von der Welt außerhalb des elterlichen Anwesens. Eine exquisite Ausbildung in den feinen Tugenden des Gesangs, des Zitherspiels, des Tanzes, der Literatur, Malerei und Stickerei dient vor allem dazu, sie zu einer anspruchsvollen Unterhalterin ihres späteren Gemahls zu machen. Diese Ausbildung hat Mudan nun fast abgeschlossen, der Zukünftige ist bereits bestimmt, das Hochzeitsdatum festgelegt. Bald schon soll sie von dem goldenen Käfig ihres Elternhauses in den Haushalt eines ihr vollkommen fremden Ehemannes überwechseln.

Chaos der Gefühle
Doch erst einmal erwartet das kunstsinnige Mädchen eine große Freude. Anlässlich ihres bevorstehenden sechzehnten Geburtstags plant ihr Vater die Oper „Der Päonienpavillon“ von Tang Xianzu aufzuführen. Durch eine Mauer aus Wandschirmen vor den Blicken der übrigen (vor allem männlichen) Gäste verborgen, darf sie gemeinsam mit ihren Tanten und Cousinen dem hochrangigen Kunstereignis beiwohnen. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Das anrührende Schicksal von Du Liniang, der tragischen Heldin der beliebten mehrstündigen Oper, soll sich später als ihr eigenes erweisen.

Die Oper
Bewegt verfolgt Mudan die Handlung: Du Liniang, die Tochter eines hochrangigen Beamten, geht eines Tages in den Garten hinaus. Weil sie den Tag mit ermüdenden Studien zugebracht hat, schläft sie ein. Bevor die fallenden Blütenblätter sie sanft wieder aufwecken, träumt sie von ihrem Geliebten Liu Mengmai, dem sie im wirklichen Leben niemals begegnet ist.

Unfähig sich vom Zauber des Traumes zu befreien, siecht sie anschließend krank von unerfüllter Liebe dahin und stirbt. In der Unterwelt stellen die Richter fest, dass ihre Hochzeit mit Liu Mengmai vorherbestimmt war, nun aber nicht mehr geschlossen werden kann. Stattdessen soll sie als Geist seine Träume heimsuchen.

Liu Mengmai erkennt das Mädchen aus einem früheren Traum schließlich wieder und willigt ein, ihren Leichnam zu bergen. Nachdem dies geschehen und Du Liniang glücklich wieder zum Leben erweckt worden ist, bittet sie ihn, die Nachricht ihrer Auferstehung ihrem Vater zu überbringen. Doch dieser beschimpft Liu Mengmei als Betrüger und bezichtigt ihn der Grabräuberei. Am Ende bewahrt allein der Umstand, dass er die kaiserlichen Prüfungen als Bester bestanden hat, den getreuen Liebhaber vor einem qualvollen Tod.

Schicksalhafte Begegnung
„Meine Mutter hatte mich dazu erzogen, niemals Gefühle zu zeigen, aber bei der Lektüre von „Der Päonienpavillon“ verspürte ich doch so manches: Liebe, Traurigkeit, Glück. Als die Geschichte nun vor mir aufgeführt wurde, ich mir vorstellte, was in unserem Steingarten zwischen dem Gelehrten und Liniang passierte, und zum ersten Mal einen jungen Mann sah, der nicht zu meiner Familie gehörte, rief das zu viele Gefühle in mir hervor. Ich musste kurz weg von hier, erfüllt von derselben Unruhe wie Liniang. Langsam erhob ich mich und stieg vorsichtig zwischen den Kissen hindurch. Ganz für mich ging ich auf einem der Wege durch unseren Garten, und Liniangs Worte erfüllten mein Herz mit Sehnsucht.“

Als Mudan zwischendurch den Ort der Aufführung verlässt und ein paar Schritte hinaus in den Garten wagt, um ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, begegnet sie dem jungen Dichter Wu Ren. Er bittet sie, ihn am folgenden Abend, wenn die Oper fortgesetzt wird, erneut zu treffen. „Seid Ihr versprochen?“ fragt er sie – und wiederholt damit die Worte des Opernhelden Mengmai an seine Geliebte Liniang.

Verhängnisvoller Fehler
Für Mudan sind diese verbotenen Treffen köstlich und traurig zugleich. Nur zu schmerzlich wird ihr bewusst, dass es, sobald die Oper geendet hat, kein Wiedersehen mehr geben wird. Als ihr Vater ihr am letzten Abend der Aufführung ihren zukünftigen Gemahl präsentiert, schaut sie weg. Ein verhängnisvoller Fehler, denn der, dem sie versprochen wurde, ist niemand Geringeres als der junge Dichter aus dem Garten. Doch als Mudan sich dessen bewusst wird, steht sie bereits an der Schwelle des Todes. Krank vor unerfüllter Liebe hat sie viele Wochen mit den Studien der Buchfassung des „Päoniengartens“ verbracht und dabei jegliche Nahrungsaufnahme verweigert.

Umherirren in der Geisterwelt
„Während die Tage verstrichen, stellte ich fest, dass ich immer noch dieselben Wünsche und Bedürfnisse hatte wie zu Lebzeiten. Statt meine Gefühle zu beschwichtigen, hatte der Tod sie intensiviert. Die sieben Gefühle, über die wir auf Erden sprechen – Freude, Ärger, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Begehren – hatten mich ins Jenseits begleitet. Ich begriff, dass diese ursprünglichen Gefühle nachhaltiger waren als jede andere Kraft des Universums: stärker als das Leben, beständiger als der Tod, mächtiger als alles, was die Götter kontrollieren können, und sie umgaben uns ohne Anfang und ohne Ende. Und während ich davon umspült wurde, war keines dieser Gefühle stärker als der Kummer, den ich um das Leben empfand, das ich verloren hatte.“

Weil ihre Familie über den eigenen Kummer vergisst, ihre Ahnentafel mit einem Punkt zu verzieren, wird Mudans Seele nun für viele Jahre keine Ruhe finden. Als hungriger (unbefriedigter) Geist verfolgt sie fortan das Geschehen auf der Erde, muss mit ansehen wie ihr Geliebter um sie trauert und später ihre verhasste Cousine ehelicht. Schon bald wird klar, dass das nicht gut gehen kann.

Nutzlose Freiheit
Was ihr zu Lebzeiten verwehrt war, besitzt Mudan nun im Übermaß: die Möglichkeit sich außerhalb der häuslichen Umgebung frei zu bewegen. So kann sie von einer Aussichtsterrasse aus die Bewohner ihres Elternhauses beobachten, sich an die Fersen der Menschen heften, sie in deren Träumen besuchen und sogar in ihre Gedanken und Körper eindringen. Sie trifft ambitionierte Frauen, die unter dem Joch der Männerherrschaft leiden und sich mit Hilfe der Literatur Gehör zu verschaffen suchen. Auch begegnet sie ihrer verstorbenen Großmutter und später ihrer Mutter wieder und erfährt einiges über deren Schicksal während der blutigen Machtübernahme der Mandschu. Sogar der Hochzeitsnacht ihres Geliebten wohnt sie bei.

Gespannte Erwartung
Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung allerdings vermag sie nicht zu stillen. Auch ist ihr Dasein als Geist ein entbehrungsreiches, denn ihr Wohlergehen hängt allein von den Ritualen der Menschen ab und deren fürsorglichem Gedenken. Allein in deren Macht liegt es nun, ob ihre Seele am Ende Frieden findet. Denn wenngleich Mudan aus dem Jenseits ihr Möglichstes versucht, ihrem Schicksal doch noch eine glückliche Wende zu geben, geht doch einiges schief. So verharrt der Leser bis zur letzten Minute in gespannter Erwartung. Wenn er dann abends das Buch beiseite legt und das Licht ausknipst, wird auch er sich unwillkürlich fragen, wie durchlässig die Sphäre zwischen ihm und seinen verstorbenen Lieben ist. Sind sie nicht vielleicht ganz in der Nähe?

Sabine Schmitt
Mainz, März 2008