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SPECIAL zu Friedrich Ani »Die unterirdische Sonne«

Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.
Alfred Hitchcock


Im wahrsten Sinne atemberaubend und ungeheuerlich – das ist Friedrich Anis neuer Roman „Die unterirdische Sonne“. Wer ihn gelesen hat, wird ihn nicht vergessen, denn wie ein Blick in die Hölle gräbt sich das Buch tief ins Bewusstsein ein.

Beklemmend wie die Realität
Friedrich Ani erzählt die Geschichte in drei Akten. Die Grundkonstellation des Romans ruft sofort bekannte Bilder auf. Man fühlt sich an Natascha Kampusch, an den Fall Fritzl erinnert, während man in einen trostlosen Kellerraum blickt, in dem fünf Jugendliche zwischen elf und sechzehn Jahren gefangen gehalten werden. Er muss sich irgendwo auf einer Insel befinden, es fällt der Name Vohrland. An der Decke eine spärliche Funzel, am Boden schmutzige Matratzen. Ein Tisch, ein paar Stühle. Irgendwo nebenan ein Badezimmer, das reihum von den Insassen dieses Kerkers akribisch geputzt werden muss, manchmal bis zu fünf Stunden lang, weil die Peiniger mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind. Die Peiniger, von denen sie "oben" missbraucht werden.
Wer sind sie? Wir wissen es nicht, denn der Autor richtet seinen Blick erbarmungslos starr, wie eine fest installierte Kamera auf eine extreme Versuchsanordnung, ausschließlich auf die Opfer. Wir können und wir dürfen den Blick auf diese fünf schwer traumatisierten Kinder nicht abwenden. Und erfahren Ungeheuerliches.

Die stummen Opfer
Leon (12) war der Erste. Wie lange er allein dort unten in dem lichtlosen Verlies dahinvegetierte, weiß er nicht. Nur, dass allmählich andere hinzukamen: Erst Maren (13), dann Sophia (14), Eike (11) und zuletzt, vor knapp einer Woche, der 16-jährige Conrad. Wie die anderen auch wurde er mit einem billigen Trick übertölpelt, betäubt, eingesperrt in einen Kofferraum, gefesselt und mit zugeklebtem Mund. Wir erfahren aus den Gesprächen der Jugendlichen, dass sie reihum immer wieder nach „oben“ geholt werden, einzeln, zu zweit, zu dritt. Nach oben, wo ihnen Erwachsene Sachen antun. Unaussprechliches, Schmerzhaftes. Tag für Tag. Angezogen, nackt oder mit komischen Kleidern. Auf einem Gitterbett. Vor einer Kamera. Wer drankommt, weiß vorher keiner. Und keiner darf je über die Geschehnisse sprechen, sonst müssten sie sterben, hat ihnen die Frau gesagt.
Wenn diejenigen, die oben waren, als elende Gestalten, mit einem Sack über dem Kopf, wieder in den Keller gestoßen werden, geschoren, geschunden, wimmernd und schluchzend, wird jeder von ihnen wieder erinnert an seine eigenen Schmerzen, die Scham, die Verzweiflung. Und bleibt stumm.

Zu wissen, dass etwas Entsetzliches passiert
So gnadenlos uns der Autor dieses bedrückende Szenario vor Augen führt, so großartig ist sein Kunstgriff dabei: Ani schreibt über Gewalt und Missbrauch, ohne diese Gewalt explizit zu beschreiben. Wir bekommen die Täter nie zu sehen und erfahren über ihre Taten nur in Andeutungen. Wir wissen nicht, wie die Kinder missbraucht werden – sexuell, psychisch oder sadistisch. Wir wissen nur, dass es passiert. Und wir müssen miterleben, wie die Opfer hartnäckig über ihre Qualen schweigen. Wie ihre eigene Scham darüber, sich missbrauchen zu lassen, sie zusätzlich in die Knie zwingt und isoliert. Ani führt uns damit an die Grenze des Erträglichen, legt aber gleichzeitig den Finger mitten in die Wunde: Dass Missbrauch seinen Opfern die Sprache verschlägt und dass diese Sprachlosigkeit den Tätern zusätzliche Macht verleiht.

Dem Grauen entfliehen
Die Strategien der Jugendlichen, mit dem Grauen umzugehen, sind zunächst ganz unterschiedlich, hegen sie doch immer noch irgendeine Hoffnung, und sei sie noch so klein. Während Leon ständig weint, immer mehr abmagert und sich in Träume von seinem früheren Leben flüchtet, hält Sophia, eine Ministrantin, sich noch an ihren Bibelgeschichten und Gebeten fest. Maren, seit ihrer Entführung stark stotternd, sucht Sophias Nähe oder schmiegt sich, wenn es dunkel ist, an den knochigen Leon. Conrad dagegen glotzt stumpf auf den ständig lautlos flimmernden Bildschirm und beamt sich auf diese Weise weg. Eike, der vierschrötige Jüngste mit der Berliner Schnauze, spult in seinem Kopf den immer gleichen Film über seine kaputte Familie ab, um den gegenwärtigen Horror auszublenden. Die anderen terrorisiert er dann damit, seine Wut, seinen Ekel mit unkontrollierten Hasstiraden hinauszubellen. Doch irgendwann dreht Eike durch, geht Conrad an die Gurgel. Und wird abgeholt, kehrt nicht wieder.

Der elektrische Schmetterling
Schlimmer kann es nicht kommen, denkt man zu Beginn des 2. Akts. Da stößt Noah hinzu. Noah mit seiner Krücke, dessen Schicksal das der anderen fast noch toppt: Schon als kleiner Junge von seinem Vater schwer misshandelt, in einen dunklen Keller gesperrt, die Treppe hinuntergestoßen, hat er, im Gegensatz zu den anderen, die Hölle bereits hinter sich. Er hat keine Angst vor den Tätern da oben, denn er ist schon zerstört. Seine aggressive Anwesenheit bringt jedoch neue Dynamik in die Gruppe. Die Kinder beginnen sich Märchen zu erzählen. Und machen dabei eine unglaubliche Entdeckung: Mit ihren Geschichten entfliehen sie nicht nur der Realität, sondern können gleichzeitig den anderen etwas über sich mitteilen, ohne Dinge aussprechen zu müssen. Und sie spüren, wie ihnen das Mut gibt, irgendwie. Jeder packt sein Leid in eine Geschichte, und als schließlich Noah als Letzter sein sarkastisches Märchen vom elektrischen Schmetterling Namsi erzählt, verklausuliert er darin, deutlicher als die anderen, seine Missbrauchs-Kindheit. Seine Geschichte gipfelt in einem Ruf nach Rache. Doch der wird jäh erstickt: Die Täter brechen Noah vor den Augen der anderen brutal das Genick. Wieder haben sie gesiegt, scheinbar.

Die Macht der Sprache
Aber etwas hat sich verändert, seit die Jugendlichen ihre Geschichten erzählt haben. Ihnen ist die Macht der Sprache bewusst geworden. Und so beginnt Akt 3 damit, dass das Tabu gebrochen wird: Alle erzählen einander, was ihnen „oben“ angetan wurde. Sobald die Schandtaten ans Licht gezerrt sind, gibt es nichts mehr, was die Jugendlichen aufhalten kann. Angst und Scham sind überwunden, und was folgt, wird von kalter Wut gesteuert. Endlich setzen sie sich zur Wehr ...
Ani lässt uns die Sprachlosigkeit der Opfer am eigenen Leibe spüren. Unerbittlich zwingt er uns, hinzusehen, hinzuhören, auszuhalten. »Die unterirdische Sonne« ist ein Buch, das zwar vordergründig sprachlos macht, aber auf einer anderen Ebene die große Erkenntnis schenkt, welche Macht Worte haben können, wie heilsam Sprache ist und dass Gewalt von ihren Opfern beim Namen genannt werden muss, um bezwungen zu werden.