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Stephanie Lam »Das Haus der Lügen«

Stephanie Lam über »Das Haus der Lügen«

Die Autorin zum Buch

Stephanie Lam
© privat
„Das Haus der Lügen” ist Ihr erster Roman. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen und wie wichtig waren für Sie dabei literarische Vorbilder?

Meine Liebe zum Schreiben entstand aus meiner Liebe zum Lesen. Seit meiner Kindheit bin ich eine unersättliche Leserin – ich lese alles, immer und überall – und als ich dahinter kam, dass ich mir selbst Geschichten ausdenken konnte, wurde ich obendrein schreibsüchtig. Eine meiner ersten Geschichten, die ich mit neun zu Papier brachte, habe ich noch.
Literarische Vorbilder sind sehr wichtig für mich, und die Autoren, die ich bewundere, gehören einem breiten, vielfältigen Spektrum an. Bei Agatha Christie mag ich die verschachtelten Handlungen und die Leichtigkeit ihres Erzählens, bei Sarah Waters ihr großartiges Gespür für Schauplätze und Atmosphäre. Ich verehre David Mitchell für seine fantastischen Welten, die einen völlig in Bann ziehen, und Zadie Smith für ihre messerscharf pointierten Dialoge. Am allerliebsten jedoch sind mir Schmöker, die es schaffen, mich die Realität völlig vergessen zu lassen, und mich in eine ganz andere Welt entführen – und genau so ein Buch wollte ich für meine Leser schreiben.

Wie gestalten sich Ihre Tage, wenn Sie an einem Buch arbeiten? Folgen Sie einem geplanten Zeitablauf, gibt es Routinen und Rituale, oder schreiben Sie spontan, wann und wo es sich gerade anbietet?

Ich habe einen Beruf, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene (ich bin Englischlehrerin), und früher schrieb ich spontan, wann immer sich die Gelegenheit bot – also entweder mehrere Stunden am Tag oder auch überhaupt nicht. Bis ich eines Tages beschloss, von nun an täglich zu schreiben, und das veränderte mein Leben.
Jetzt bereite ich mir einen starken Kaffee und einen Snack zu, wenn ich vom Unterrichten nach Hause komme, setze mich dann an meinen Computer und tippe zwei Stunden lang hinein, beziehungsweise notiere mir Ideen für die Entwicklung einer Handlung oder einer Figur in ein DIN-A-4-Heft. Darüber hinaus habe ich zur Inspiration ein Album voller Zeichnungen und Fotografien, und wenn ich richtig tief in dem Buch drinstecke, schreibe ich sieben Tage die Woche – ich werde völlig von dieser Welt in Beschlag genommen.

„Das Haus der Lügen“ spielt an einem fiktiven Ort: dem Seebad Helmstone an der südenglischen Küste. Gibt es Städte, die Sie zu diesem Schauplatz inspiriert haben?

Oh ja! Zu Helmstone hat mich hauptsächlich Brighton inspiriert, wo ich lebe – sogar der Name rührt von der alten Bezeichnung für die Stadt Brighton her, die Brighthelmstone lautet und schon seit langem nicht mehr gebräuchlich ist. Brighton ist an der Südküste Englands gelegen, und ich benutzte die Anlage der Stadt als Anregung für die Entwicklung meiner Vorstellung von Helmstone. Zum Beispiel befindet sich das Kaufhaus „Bradley´s“ an derselben Stelle, an der in Brighton früher wirklich ein Kaufhaus stand. Das Armenviertel von Helmstone ist dort, wo es einst tatsächlich war. Ziemlich weit vorn im Buch ist von einem Plakat die Rede, das Helmstone als eine Art englische Riviera darstellt – und das geht auf ein Werbeposter für Brighton aus dem Jahr 1920 zurück.
Allerdings gibt es in Brighton einen steinigen Strand und keine Klippen. Deshalb gefiel es mir, eine fiktive Stadt zu erschaffen – weil man sie so gestalten kann, wie man möchte – und ich gab Helmstone einen Sandstrand und eine Klippe, die sich westlich der Stadt entlang des Strandes erhebt. Dieser Teil von Helmstone geht direkt auf Ramsgate in Kent zurück – und die Eisdiele im Buch entspricht dem phantastischen Café „Morelli´s“ in Broadstairs, gleich neben Ramsgate. Falls Sie jemals dorthin gehen, werden Sie feststellen, dass das „Morelli´s“ genauso aussieht wie vermutlich schon in den 1960er Jahren. Der Vergnügungspark, in dem Rosie arbeitet, beruht auf dem Freizeitpark am Strand von Hastings, das ein Stück entfernt von Brighton an derselben Küste liegt.

Dreh- und Angelpunkt Ihrer Geschichte ist Castaway House, ein mondänes Herrenhaus. Das Schicksal seiner Bewohner ist eng mit ihm verwoben, und keiner, der sich dort aufhält, kann sich der machtvollen Atmosphäre entziehen. Wie haben Sie Ihre Vorstellung von Castaway House entwickelt? Gibt es Gebäude, die Vorbild dafür waren, haben Sie alte Fotografien herangezogen und vielleicht sogar selbst Pläne gezeichnet?

Mein Zuhause in Brighton befindet sich in der zweiten Etage eines großen, früher eleganten, jetzt bröckelnden Reihenhauses aus dem 19. Jahrhundert, dicht am Meer gelegen, und das beeinflusste unmittelbar meine Vorstellung von Castaway House. Kurz nachdem ich dort einzog, hatte ich das Glück, eine ältere Dame kennenzulernen, die in den 1940er Jahren mit ihren Eltern in meiner Wohnung gelebt hatte, und durch diese Begegnung begann ich darüber nachzudenken, welche Leute vor mir schon dieses Gebäude bewohnt hatten – über deren Leben, Lieben, Hoffnungen, Geheimnisse. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke!
Ich habe einige Details meines Hauses für Castaway House verwendet – das verschnörkelte Ende des Treppengeländers gleicht dem im Erdgeschoss bei mir zu Hause, und die Zinnen auf dem Dach sind auch die gleichen. Aber im Großen und Ganzen ist Castaway House ein Abbild der vielen schönen Häuser aus der Regency-Epoche in Brighton und Hove, von denen viele am Meeresufer oder an nahegelegenen Plätzen stehen. Jetzt befinden sich darin überwiegend Wohnungen, aber sie besitzen immer noch ihre imposanten Eingangsbereiche und eleganten Fassaden.
Die Vermutung, ich hätte genaue Pläne von Castaway House in den 1920er und 1960er Jahren gezeichnet, ist richtig. Ich kann meine Augen schließen, in Gedanken durchs Treppenhaus gehen, eine Tür öffnen und weiß, in welchem Raum ich mich befinde.

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt, 1924 und 1965. Ungewöhnlich ist das insofern, als bei den meisten Romanen, deren Handlung auf unterschiedlichen Zeitebenen spielt, ein Bezugspunkt in der Gegenwart liegt. Wieso haben Sie sich ausgerechnet für diese beiden Jahre entschieden?

Ich wollte Castaway House in seiner Glanzzeit darstellen, als eine einzige Familie ein solches Anwesen unterhalten konnte – und in den 1920er Jahren war dies, anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, noch möglich. Ich wollte auch herausfinden, wie die Reichen damals lebten, denn ich finde die Dekadenz dieses Jahrzehnts sehr reizvoll, ebenso wie die fantastischen Moden und die zunehmende Freiheit, die Frauen in England nach dem restriktiven Viktorianischen und Edwardischen Zeitalter genossen. Außerdem wollte ich genügend Zeitabstand zum Ersten Weltkrieg, so dass die bedrückende Stimmung jener Jahre zwar schon abklang, aber noch einen Nachhall in der Vergnügungslust der jüngeren Generation fand. Daher erschien mir 1924 genau passend.
In den 1960er Jahren jedoch waren viele der großen Anwesen wie Castaway House verkauft und in Mietshäuser mit möblierten Zimmern umgewandelt worden. Meine Eltern lernten sich zu jener Zeit kennen und teilten ein solches Zimmer in einem einst prachtvollen Haus in Notting Hill, im Westen von London, und ihre Erzählungen flossen in mein Buch ein. Ich finde den Optimismus der jungen Leute aus den 1960er Jahren toll – trotz der damals omnipräsenten Bedrohung durch einen Atomkrieg – und 1965 war aus meiner Sicht ideal, weil es genau an der Schwelle zwischen der Naivität der frühen Sechzigerjahre und der Hippiekultur und den psychedelischen Strömungen der späteren Sechzigerjahre liegt.

Wenn Sie sich eine Zeit aussuchen dürften, in der Sie gerne gelebt hätten, welche Epoche würden Sie dann wählen?

Das ist eine schwierige Frage… Wäre ich reich, würde ich gern mit Personal an meiner Seite in den 1920ern leben, aber da meine englischen Urgroßeltern in Armut aufwuchsen und die Frauen als Bedienstete arbeiteten (wohingegen meine chinesischen Urgroßeltern selbst Dienstboten beschäftigten!), bin ich mir viel zu sehr über die Arbeit im Klaren, die sie leisten mussten, und die Hungerlöhne, die sie dafür erhielten. Meine Hauptfiguren haben davon glücklicherweise keine Ahnung und können unbeschwert leben!
Folglich wäre mir wohl 1965 lieber, auch wenn ich in einem heruntergekommen Zimmer wohnen und zum Abendessen Bohnen auf Toast verzehren müsste. Ich glaube, dass damals in den Sechzigern alle Frauen – nicht nur die aus der Oberschicht – viel mehr Freiheiten genossen und dass auch erbittert für eine kostenlose allgemeine Gesundheitsversorgung und Bildung gekämpft wurde.

In Ihrem Roman gibt es zwei Hauptfiguren, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird: Robert Carver, der 1924 nach einer schweren Krankheit den Sommer in Castaway House bei seinem Cousin Alec Bray verbringt, und Rosie Churchill, die 1965, kurz vor dem Schulabschluss, Hals über Kopf ihr Elternhaus verlässt und in Castaway House Zuflucht sucht. Wie würden Sie Rosie charakterisieren?

Rosie ist eine impulsive Achtzehnjährige, die von zu Hause weggelaufen ist, weil sie etwas Schreckliches getan hat. Sie lebt in einem verlotterten feuchten Zimmer und ist einer anderen jungen Bewohnerin des Hauses hörig, Star, die aus Rosies Sicht eine mühelose Mondänität verkörpert. Darüber hinaus ist Rosie mitfühlend – als ein alter Mann einzieht, der sein Gedächtnis verloren hat, hilft sie ihm und kommt dadurch dem Geheimnis von Castaway House auf die Spur.

Welche Gemeinsamkeiten verbinden Rosie Churchill und Robert Carver?

Beide sind jung und ihre größte Gemeinsamkeit besteht in ihrer Arglosigkeit. Sie sind unbeholfen, neugierig, einfühlsam und mutig.
Weder Rosie noch Robert passen nach Castaway House, was den Leser in die Lage versetzt, den Ort wie ein Fremder durch ihre Augen wahrnehmen zu können. Robert stammt aus viel bescheideneren Verhältnissen als sein Cousin Alec, und es dauert eine Weile, bis er sich an das Luxusleben gewöhnt hat, das Alec in Castaway führt. Rosie indessen hat es jäh von einem behaglichen Elternhaus der Mittelschicht in eines der schäbigen Zimmer verschlagen, die man in Castaway House eingerichtet hat, und auch wir als Leser müssen uns erst an diesen Ortswechsel gewöhnen.

Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Geschichte aus der Sicht zweier junger Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden zu schildern und dabei einmal die männliche und einmal die weibliche Perspektive einzunehmen?

Ich liebe es, aus der Sicht junger Leute zu erzählen. Wenn einem die Welt zu Füßen liegt und sich so viele Möglichkeiten eröffnen, ist man voller Zuversicht und Experimentierfreude. Man kostet zum ersten Mal den Geschmack der Freiheit, und das ist betörend. Man kann sich selbst erfinden, neu beginnen – und alles, was damit zusammenhängt, fasziniert mich ungeheuer.
Als ich mit dem Schreiben begann, ging ich von Roberts Perspektive aus – er schien mir sofort lebendig, und ich versetzte mich sehr gern in ihn hinein und betrachtete die Welt mit seinen Augen. Anfangs musste er noch viel lernen, und es machte mir riesigen Spaß, ihn dabei zu begleiten. Als die Passagen aus dem Jahr 1965 an der Reihe waren, erschien es mir sinnvoll, als Gegenpart zu Robert, der mit Frauen schrecklich unerfahren ist, aus weiblicher Sicht zu erzählen. Rosie lässt die Leser erleben, wie junge Frauen wirklich sind – und zwar völlig anders, als Robert sie sich vorstellt!

Ein zentrales Thema Ihres Romans ist die Liebe in ihren unterschiedlichen Facetten. Welche Rolle spielt in Ihrer Geschichte, vor allem hinsichtlich der beiden Protagonisten, die „verbotene Liebe“?

Für mich ist das Motiv nicht nur verbotene Liebe, sondern auch verbotenes Verlangen. Ich verehre dessen Macht – die Vorstellung, sich nach etwas zu verzehren, das nicht für einen bestimmt ist. Sie beeinflusst ganz viele meiner Figuren und treibt die Handlung voran. Aber natürlich wollte ich auch über verschiedene Spielarten der Liebe schreiben, seien es homosexuelle, heterosexuelle, bisexuelle, oder welche auch immer. Ich habe Romane satt, die nach dem Schema ablaufen: Junger Mann trifft junges Mädchen, Ende der Geschichte. Die Liebe – und die Menschen – haben weitaus Unterschiedlicheres und Interessanteres zu bieten.

Inwieweit ist Castaway House ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Entwicklung?

Die 1920er Jahre repräsentieren eine untergegangene Welt, und ich wollte das an Castaway House zeigen. In dieser Welt führen die obersten Zehntausend ein dekadentes Luxusleben, sie verfügen über alles, was sie sich wünschen, während die Ärmeren sich für einen Hungerlohn abrackern. Es ist eine Welt ohne Sozialstaat, wo die Löhne so ungleich verteilt sind, dass die Armen in Slums leben müssen und früh sterben; ein solches Leben haben auch meine englischen Urgroßeltern geführt, und ich wollte dies in meinem Buch am Beispiel der fiktionalen Slums von Helmstone illustrieren.
In den 1960er Jahren hatte sich alles geändert. Die Angehörigen der Oberschicht konnten es sich nicht mehr leisten, riesige Anwesen wie Castaway House zu unterhalten, und verkauften sie an Bauunternehmer. Die Gesellschaft war mittlerweile deutlich egalitärer, und die Arbeiterschicht hatte mehr Chancen aufzusteigen als zuvor. Auch die Frauen besaßen größere Unabhängigkeit. Andererseits jedoch betrachteten viele Männer die Frauen nun als leichte Beute, und Rosie wird den Kopf nicht verlieren dürfen, um über die Runden zu kommen.
Die vormals starren Strukturen der Gesellschaft bröckelten, und ich versuchte dies auch mittels der informelleren Sprache zum Ausdruck zu bringen, die die Menschen in den 1960er-Kapiteln verwenden. Als ich an dem Roman schrieb, las ich ausschließlich Bücher, die in den 1920ern und 1960ern geschrieben wurden; ich wollte dadurch nicht nur den Tonfall einfangen, sondern auch das Verhalten der Menschen, die damals lebten.

Sie schreiben bereits am Entwurf für einen neuen Roman, aber entlocken lassen Sie sich über die Geschichte jetzt noch nichts. Gibt es Menschen, denen Sie sich während des Schreibprozesses anvertrauen, mit denen Sie beispielsweise Ideen diskutieren oder die Ihr Manuskript zu lesen bekommen?

Wenn ich ein Buch schreibe, bin ich sehr abergläubisch; ich gebe nur ungern etwas darüber preis, egal wem! Wenn ich aber ein Konzept fertig habe, mit dem ich einigermaßen glücklich bin, spreche ich mit ein paar verständnisvollen Menschen darüber. Ich schätze ihre Gedanken und ihre Rückmeldung – andere können oft etwas erkennen, das man selbst nicht sieht.
Aber ich kann verraten, dass auch mein nächster Roman in eine andere Welt voller Rätsel, verbotener Begierden und verborgener Geheimnisse entführen wird – genau wie „Das Haus der Lügen“.



© Page & Turner Verlag
Interview: Elke Kreil

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