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Christiane Kohl »Das Zeugenhaus«

SPECIAL zu Christiane Kohl »Das Zeugenhaus«

Eine Villa am Rande der Stadt

Rezension von Detlef Horn

Täter und Opfer, Zeitvertreib und Sprachlosigkeit im "Zeugenhaus" während der Nürnberger Prozesse

Nürnberg, Herbst 1945. Stunde Null in Deutschland. Des "Reiches Schatzkästlein" ist zerbombt. In der Stadt, in der einst die Reichsparteitage der NSDAP ausgerichtet wurden, bereiten die alliierten Sieger ihre Kriegsverbrecherprozesse vor. Die maßgeblichen Verantwortlichen des NS-Regimes und deren Mitläufer sowie die Richter, Angeklagten, Verteidiger und Zeugen unterschiedlichster Provenienz halten sich in der Stadt auf, warten auf die Vernehmung. Journalisten der ganzen Welt, aber auch Schriftsteller wie Ernest Hemingway, Ilja Ehrenburg, John Steinbeck oder John Dos Passos beobachten den Prozess und informieren die Weltöffentlichkeit über den Ablauf, die Hintergründe und Ergebnisse.

Die am Prozess beteiligten Menschen bringen plötzlich wieder internationales, in gewisser Weise sogar gesellschaftliches Leben in die zertrümmerte Stadt, die monatelang unter den Folgen der Luftangriffe und der Schande der Vergangenheit erstarrt war. Dabei belegt jede der am Prozess beteiligten Gruppierungen in Nürnberg ihr eigenes Quartier: Die Hauptangeklagten in den Gefängnissen des Gerichts, das amerikanische Militär in Grand Hotel am Hauptbahnhof, die Journalisten im Schloss der Faber-Castell'schen Bleistiftfabrik in Stein - und Zeugen wie Verteidiger in einem unscheinbaren Haus im Stadtteil Erlenstegen, das kurz zuvor von den Amerikanern just zu diesem Zweck konfisziert wurde. Das Haus wird zum so genannten "Zeugenhaus"; hinter seinen Fassaden kommt es zu bizarren Begegnungen zwischen Repräsentanten des NS-Regimes und deren Opfern. Zeugen der Anklage und Zeugen der Verteidigung - für einen kurzen, aber historisch bedeutsamen Zeitraum unter einem Dach vereint.

Zeugnisse der Zeit in einem unauffälligen Gästebuch
"Keep things running smoothly" - mit diesen Worten hatten die amerikanischen Militärs die ungarische Gräfin Kálnoky beauftragt, das Zeugenhaus zu leiten. Eine Frau mit besten Referenzen, ganz Grande Dame, selbst vor den Nazis geflohen, jung, attraktiv, und mit der wichtigen Gabe ausgestattet, in schwierigen Situationen ausgleichen zu können. Ihre Aufgabe ist heikel: Wie gelingt es, all die Ängste, Erinnerungen, Sorgen, Uneinsichtigkeiten, die sich in den vergangenen Jahren des Schreckens und der Hybris herausgebildet hatten, unter einem Dach zu bändigen? Ist es möglich, bei den unterschiedlichen Erfahrungen und Charakteren der Menschen, Übergriffe zu verhindern, eine sachliche und damit sachdienliche Stimmung in den Räumen des Hauses aufrechtzuerhalten?

Christiane Kohl, Journalistin und Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, geht den Ereignissen im Nürnberger Zeugenhaus nach. Ihr war bereits vor über 25 Jahren durch einen Zufall eines der Gästebücher des Zeugenhauses in die Hände gefallen. Sie spürte damals intuitiv, welche unfassbaren Schicksale und Ereignisse sich zwischen den Deckeln des von einer dünnen Goldlinie gerahmten Bucheinbandes aus hellbraunem Leder vereinen mussten. Ihr Interesse ließ sie von da an nicht mehr los und führte sie zu umfangreichen Recherchen, deren Ergebnisse sie nun in "Das Zeugenhaus" zusammenfasst.

Die Autorin hält bei ihrer Schilderung der Ereignisse jener Tage minutiös fest, was bislang noch nirgendwo dokumentiert worden ist: Wer war zu welcher Zeit in der Novalisstraße in Nürnberg Gast in jenem Haus, das die Gräfin Kálnoky leitete. Wie verbrachte man die Zeit, was waren die Themen, wie ging jeder der "Gäste" des Hauses mit seiner speziellen Geschichte um und präsentierte diese und damit sich selbst vor den anderen. Christiane Kohl führt den Leser in die Welt der kleinen und großen Schicksale, stellt die unterschiedlichen Menschen vor, die Tür an Tür nebeneinander lebten. Damit gelingt ihr ein Gang durch die Geschichte während Deutschlands brauner Jahre. Und zugleich schafft sie es, den Verlauf der Nürnberger Prozesse zu vermitteln. Möglich wurde ihr das, indem sie unablässig recherchierte, Vernehmungsprotokolle auswertete und Interviews mit noch lebenden Zeugen jener bislang kaum beachteten historischen Episode führen konnte.

Abbild der sprachlosen Nachkriegsgesellschaft
Die Liste der Gäste des Hauses ist beachtlich, die Namen sind illuster. Rudolf Diels, erster Chef der Gestapo, trifft auf Robert M. W. Kempner, den Stellvertreter des US-Chefanklägers Robert H. Jackson. Kempner, der nach Amerika geflüchtete deutsch-jüdische Jurist und spätere Regierungsberater unter Franklin D. Roosevelt verbindet eine gemeinsame Geschichte mit Rudolf Diels, die bereits in den dreißiger Jahren in Berlin begann. Sie findet ihre Fortsetzung während der Zeit der Nürnberger Prozesse. Heinrich Hoffmann, Hitlers Leibfotograf, und durch dessen Protektion reich geworden, versucht sofort auch im Zeugenhaus, seine Dienste anzubieten und spielt dabei den unschuldig Verführten. Er trifft auf Eugen Kogon, den Schriftsteller und Publizisten, den Überlebenden aus Buchenwald. Einer der Kronzeugen der Anklage, Erwin Lahousen Edler von Vivremont, der sich dem Widerstand angeschlossen hatte und während des Prozesses zahlreiche Nachweise über die Verstrickungen der Hauptangeklagten liefern kann, begegnet Henriette von Schirach, Tochter des Leibfotografen Heinrich Hoffmann und Ehefrau des Hauptangeklagten Baldur von Schirach.

Welten treffen aufeinander, manchmal nur für eine kurze Übergangszeit, manchmal für länger. Welten brechen aber auch zusammen - beispielsweise die der Gisela Limberger, ehemalige Bibliothekarin und Privatsekretärin Hermann Görings, die vor allem dessen zahlreiche privaten Geldgeschäfte erledigte. In Nibelungentreue hatte sie zu ihrem Chef gehalten, bis sie im Zeugenhaus Wahrheiten entdecken musste, vor denen sie zuvor die Augen verschlossen hatte.

"Das Zeugenhaus war nichts anderes als ein Spiegel dieser Zeit. Hier wurde wie im Brennglas sichtbar, was sich auf größere Distanz bereits zu verwischen drohte. (…) Da waren die alten Nazis noch die mächtigen alten Nazis und die Leute aus den Konzentrationslagern fühlten sich irgendwie immer noch als Menschen zweiter Klasse. Während die einen, vom Schlage Hoffmanns, laut und polternd das Abendgespräch dominierten, wurden andere Bewohner zuweilen kaum wahrgenommen, wenn sie auf leisen Sohlen das Haus durchquerten."

Eine bizarre Hausgemeinschaft
Christiane Kohls Verdienst ist es, die Geschichte des Zeugenhauses einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei deutet sie nicht, sie schildert - und lässt so Spielraum für eigene Interpretationen der erstaunlichen Begebenheiten in der Nürnberger Novalisstraße. Geschickt baut sie die Hintergründe der großen historischen Ereignisse der Nazi-Herrschaft wie auch der Nürnberger Prozesse mit ein.

"Bis zum Schluss hat mich die Frage bewegt, warum es im Zeugenhaus alles in allem doch recht ruhig zuging; warum in dieser wohl bizarrsten Hausgemeinschaft der frühen Nachkriegszeit kein offener Krieg unter den höchst unterschiedlichen Gästen ausbrach", schreibt Christiane Kohl in ihrem Nachwort. Einen Grund dafür sieht sie in der Sprachlosigkeit, die nicht nur hinter den Mauern des Hauses, sondern während der Nachkriegszeit generell herrschte. Eine Sprachlosigkeit, die sich "als dumpfer Nebelschwaden über die Ereignisse legte und für lange Zeit eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Geschehen verhinderte." Weder die Täter noch die Opfer konnten über die Erinnerungen offen sprechen. Auf den einen lastete Schuld, die sie verdrängten oder nicht einsehen wollten, die anderen konnten keine Worte für das finden, was sie zu ertragen hatten. All das wird spürbar, wenn man der Autorin durch die Eingangstür in das Zeugenhaus folgt. Man folgt ihr fassungslos.

Detlef Horn
München, Oktober 2005