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Interview mit Claire Hajaj zu »Der Duft von bitteren Orangen«

Wussten Sie, dass Claire Hajaj ihre Lieblingsfilme- und Bücher so oft anguckt und liest, dass sie fast jede Szene auswendig wiedergeben kann?

Eine kurze Biografie:
Geboren bin ich in London, aber meine Kindheit verbrachte ich in Kuwait, damals im Krieg zwischen Iran und Irak und während des Aufkeimens der ersten Intifada. Meine frühesten Erinnerungen sind überschattet von sengender Hitze, Staub und der Last des Krieges um uns herum. Als ich zehn war, kehrte meine Familie nach England zurück. Ich verliebte mich in die Musik und die Literatur. Mit 17 Jahren ging ich an die Universität und studierte Klassische Literatur. Danach arbeitete ich in der Musikbranche, bis ich 2001 kurz nach dem Einsturz des World Trade Centers bei den Vereinten Nationen anfing. Seitdem hatte ich das Privileg, auf der ganzen Welt an Friedensmissionen mitwirken zu dürfen und das Leid der Bevölkerung zu lindern. Aktuell arbeite ich in Beirut an einem Hilfsprojekt zur Linderung der Folgen des bereits drei Jahre währenden Syrienkonflikts. Mein Mann arbeitet an demselben Projekt. Wir haben eine vierjährige Tochter.

Wie kamen Sie zum Schreiben?
Ich habe den Sprung ins kalte Wasser gewagt und eine Geschichte erzählt, die ich schon ewig in mir trage. Den nötigen Mut dazu verlieh mir die Geburt meiner Tochter vor vier Jahren. Nach drei Jahren bitterer Konflikte gab ich meinen UN-Posten im Irak auf. Plötzlich war alles neu für mich, und anstatt in der Gegenwart festzuhängen, konnte ich meine Augen zum ersten Mal seit Jahren auf den Horizont richten und eine lange Zukunft vor mir sehen. Ich wollte eine Brücke schlagen – zwischen der Welt, aus der ich komme, und der Zukunft meines Kindes. Diese Brücke ist Der Duft von bitteren Orangen.

Wie finden Sie Ihre Themen?
Ich lasse mich vom Leben inspirieren, von seiner unglaublichen Komplexität und Vielfalt, von den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Menschen. Je mehr ich von verschiedenen Kulturen und Menschen wahrnehme, desto mehr glaube ich, dass uns genau das eint, was uns trennt. All die Missverständnisse und Wirrungen und das ureigene menschliche Bedürfnis, das uns dazu drängt, trotz allem miteinander in Verbindung zu treten, bringen mich immer wieder zum Staunen.

Welche Szene war bei Ihrem aktuellen Buch am schwierigsten zu schreiben?
Ohne zu viel zu verraten – die ersten und die letzten Szenen waren am schwierigsten. Das Buch kehrt zu seinen Anfängen zurück und zeigt, wie teuer der Zorn die Generationen zu stehen kommt, im Gegensatz zum sofort zu begleichenden Preis der Vergebung. Mir fiel es sehr schwer, meine Charaktere diesem unlösbaren Dilemma auszusetzen und ihnen eine derartige Last aufzuerlegen. Die Geschichte von Judiths Großmutter, Rebecca, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Kischinew entkam, floss hingegen in die Tasten, als würde ich ihre Stimme hören. Ihr Verlust entspricht dem von Salim, und ihre Geschichte hat mich ebenso erfüllt, aber ich hege eine solche Bewunderung für die Überlebenden jener Zeit, ob Araber oder Jude, dass der Stolz das Mitleid überwiegt.

Haben Sie eine Lieblingsszene und eine Lieblingsfigur?
Jeder Einzelne hat mich fasziniert, denn irgendwie ist jeder ein Teil von mir. Letztendlich aber ist es Salim, der mich am meisten bewegt, diese Mischung aus Leid und Hoffnung, Intelligenz und Blindheit, Zorn und Mut. Er schlägt sich ganz persönlich mit den Themen herum, die diese Generation der Migranten und Idealisten plagen: Wer wir sind, wohin wir gehören, was wir der Vergangenheit schuldig sind, was wir bewahren und was wir zurücklassen müssen, um eine sichere, friedliche Zukunft zu schaffen. Ich sehe Salim in vielen Menschen, und ich hoffe, dass auch andere sich in ihm wiederfinden.

Was hat Sie zu diesem Buch inspiriert?
Es ist eine fiktive Geschichte, aber sie wurzelt in den Erlebnissen meiner Familie. Meine Mutter stammt aus einer jüdischen Familie, deren Angehörige den Holocaust und Pogrome überlebt haben. Mein Vater ist ein Muslim aus Palästina, der an dem Tag sein Erbe verlor, als Israel seine Flagge hisste. Ich bin die Erstgeborene. Seit ich ihre Geschichten kenne – und die meiner Großeltern, Tanten und Onkel, das spezielle Erbe zweier verfeindeter Völker –, berühren mich die Ähnlichkeiten all dessen. Dieselben Hoffnungen und Träume, dieselbe Sehnsucht nach Heimat. Ich wollte diese Geschichten aufschreiben, bevor sie verloren gehen, und einem Krieg, der sich so weit von seinem Ursprung im menschlichen Herzen entfernt hat, seine menschliche Seite zurückgeben.

Wen möchten Sie mit Ihrem Buch ansprechen?
Ich hoffe, dass mein Buch eine breite Leserschaft findet, die versteht, was es heißt, nach der eigenen Identität zu suchen und zwischen den Forderungen der Vergangenheit und der Zukunft seinen Platz in der Welt zu finden. Es ist eine internationale Geschichte, aber auch eine zutiefst menschliche. Wer sich für die historischen und psychologischen Kräfte interessiert, die unsere moderne Welt geformt haben, wessen Familiengeschichte die Themen Krieg und Migration enthält, wer Geschichten von Familien aus unterschiedlichen Epochen zu schätzen weiß, deren Probleme in gewisser Weise die eigenen widerspiegeln – der greift hoffentlich zu diesem Buch.

Was lesen Sie selber gerne?
Ich lese zur Zeit Die vierzig Geheimnisse der Liebe von Elif Shafak. Ich liebe den ihr eigenen magischen Realismus – gerade eben so viel Realismus in der Magie, dass man das Gefühl hat, die Charaktere würden einen unmittelbar ansprechen. Und wenn wir schon bei Magie sind, ich lese auch erneut Jonathan Strange und Mr. Norrell – ein außergewöhnliches Debüt, das in einem imaginären England des 18. Jahrhunderts während der napoleonischen Kriege spielt, wo die europäische Geschichte, wie wir sie kennen, plötzlich durch das Auftauchen von zwei ganz unterschiedlichen Zauberern durcheinandergebracht wird. Sehr zu empfehlen ist auch Der Hase mit den Bernsteinaugen von Edmund de Waal. Dabei handelt es sich um eine ungewöhnliche Familiengeschichte über mehrere Generationen, in der kleine japanische Kunstwerke in überaus turbulenten Zeiten von einer Hand in die andere wandern. Die Geschichte hat mich bis zur letzten Seite gefesselt, und als ich das Buch zuschlug, hatte ich Tränen in den Augen. Sie galten nicht nur dieser Familie, sondern auch allen anderen, die mit ihr gelitten hatten.

Wer sind Ihre Lieblingsautoren?
Als junge Frau faszinierten mich die alten Klassiker und die großen Literaten Europas. Für mich war das wie ein Gespräch über die Jahrtausende hinweg, das zu einer Zeit begann, als die Menschen noch zum Horizont blicken konnten, ohne zu wissen, was sie dahinter erwartete. Als sie ihre Umgebung entdeckten, mussten sie ein Konzept der Humanität erarbeiten. All unsere Vorstellungen von Ehre und Pflicht, Liebe und Verantwortung, Gerechtigkeit und Rache fußen auf Dichtern und Denkern wie Homer, Euripides, Virgil, Shakespeare, Donne, Milton, Goethe und Kant. Ich mochte auch Jane Austen, die mit feinem Federstrich ein sehr exaktes Bild zeichnet und ihr Werk mit Sarkasmus durchsetzt wie eine Giftmischerin, die Arsen in die Limonade rührt. Mein Lieblingsautor der Moderne ist jedoch ein ungarischer Schriftsteller, Stephen Vizinczey. Seine Bücher Wie ich lernte, die Frauen zu lieben und Der unschuldige Millionär sind Meisterstücke, die von den großen Autoren unserer Zeit gerühmt werden. Es handelt sich um brillante Satiren im Schafspelz des romantischen Abenteuers, in denen es um den universellen menschlichen Drang geht, um jeden Preis glücklich zu werden. Der Duft von bitteren Orangen beginnt daher mit einem Zitat aus dem Unschuldigen Millionär.

Haben Sie ein Lebensmotto?
Muss man eine Lebensphilosophie haben? Ich kann nur sagen, dass ich mir als junges Mädchen drei Lebensziele gesetzt habe: Abenteuer in fremden Ländern erleben, ein eigenes Kind großziehen und eine Geschichte veröffentlichen, die schon damals in mir wuchs. Daran können Sie erkennen, wie viel dieses Buch mir bedeutet. Muss ich mir jetzt neue Ziele suchen? Ich weiß nicht. Ich halte lieber die Versprechen ein, die ich mir gemacht habe.

Und ich glaube an die Menschen, denn ich glaube, dass einfache Menschen der beste Grundstock für Liebe, Vertrauen, Frieden und Hoffnung sind. Der Duft von bitteren Orangen und mein nächstes Buch beruhen auf dieser Einstellung – dass unsere gemeinsamen menschlichen Bande uns unweigerlich zueinander ziehen, wenn die Geschichte und der Ärger sich verschwören, um uns auseinanderzureißen. Die kleinen Punkte, die uns verbinden, die Gesten der Anerkennung, Freundlichkeit und Großzügigkeit, können die Herzen verändern und Kriege überdauern. Dafür gibt es zahllose Beispiele, die es nur leider nicht in die Nachrichten schaffen. Ich wurde erst kürzlich daran erinnert, als die Eltern von zwei ermordeten Jungen, Naftali Frenkel und Mohammad Abukhdeir, ihren Mut und ihre Menschlichkeit zusammennahmen, um sich gegen Gewalt und für Frieden auszusprechen. Wenn sie mitten in ihrer Trauer einen solchen Schritt wagen können – haben wir dann noch eine Ausrede?

Was machen Sie, wenn Sie nicht schreiben?
Ich spiele mit meiner Tochter, rede mit meinem Mann, reise durch den Nahen Osten und unterstütze die Arbeit der Vereinten Nationen.

Fünf Dinge, die wir noch nicht über Sie wissen
1. Nach einem harten Tag spiele ich gern Klavier, um wieder zur Ruhe zu kommen.
2. Meine Fahrprüfung habe ich erst im siebten (!) Anlauf geschafft, aber jetzt fahre ich wie ein Rallyefahrer.
3. Ich reite gern Araber Pferde. Unter ihren Hufen scheint die Welt dahinzufliegen.
4. Das beste Essen meines Lebens war Reis mit Hammelfleisch, den ich im Haus eines Schlitzohrs aus Peschawar aß – hinter uns ragten die Berge des Hindukuschs auf.
5. Wenn ich einen Film oder ein Buch liebe, dann sehe oder lese ich sie x-mal, bis ich fast jede Szene auswendig wiedergeben kann.

Möchten Sie ein paar Worte an Ihre deutschen Leser richten?
Liebe Leserinnen, liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie dieses Buch zur Hand nehmen und bereit sind, sich mit diesen Figuren auf die Reise zu begeben. Ich hoffe, dass Sie sich auf dieser Fahrt durch die gnadenlosen Gezeiten, die im letzten Jahrhundert so viele von uns entwurzelt haben, irgendwann selbst in ihnen wiedererkennen.

Ob aus dem Osten oder aus dem Westen, ob Araber oder Jude oder eine Mischung aus diesen Kulturen: Ich glaube fest daran, dass unsere Seelen zwar einzigartig sind, unsere Familiengeschichten jedoch nicht. Wir hören sie von Kindheit an und werden dadurch geformt. Die meisten Menschen erzählen sie unweigerlich ihr ganzes Leben lang. Diese Kette zu durchbrechen und eine neue Geschichte für die Zukunft zu schreiben, ist schwer, womöglich eine der größten Herausforderungen, denen ein Mensch sich stellen kann. Meine Figuren geben sich größte Mühe, allen Hindernissen zum Trotz. Ob es ihnen gelingt oder nicht, dieses Urteil überlasse ich Ihnen.

Es bewegt mich sehr, dass dieses Buch nun auf Deutsch erscheint, das für einen Teil meiner engsten Verwandten die Muttersprache war. Ich habe das Gefühl, dass ihre Geschichte damit nach Hause kommt, und ich weiß, dass sie sich darüber gefreut hätten. Sie standen für Vergebung und Neuanfang. Doch an der Kluft zwischen Arabern und Israelis ringen die meisten noch – aus Zorn oder Rache. Für sie und für jeden Leser dieses Buches hege ich denselben Wunsch, den eine der Figuren in Worte fasst: „Ich bete darum, dass du den Mut hast, deinen Weg zu finden. Und dass du auf deiner Reise genauso glücklich wirst wie ich auf meiner.“

Tausend Dank!
Ihre Claire Hajaj