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SPECIAL zu David Benioff »Stadt der Diebe« & »Alles auf Anfang«

SadJoe, Molly und der „Teufel von Orechowo“

Von Carsten Hansen

Gute Short Storys lassen vor dem inneren Auge des Lesers Bilder entstehen, die fast so konkret sind wie die auf einer Kinoleinwand – die letztlich sogar noch intensiver, komplexer, tiefer wirken. Sie machen aus dem Zuschauer einen Zeugen, einen am Geschehen und an den Empfindungen der Protagonisten Beteiligten. So auch bei den acht Geschichten dieses außergewöhnlichen Bandes. Wer sie liest, sich ihnen hingibt, braucht ganz sicher keine 3D-Brille, um in ihre Wirklichkeit einzutauchen. Sie ersteht ganz von allein – plastisch, lebendig, echt.

SadJoe als „Minne-Drummer“
In der Titelgeschichte will der Punkrocker und Drummer SadJoe „Alles auf Anfang“ stellen – allerdings eigentlich nur an seinem geliebten Auto. Doch während er mit einer Party den 200.000sten Straßenkilometer seines alten Ford Galaxie zelebriert, haben andere Dinge in seinem Leben längst begonnen, ihre Richtung zu ändern: Seine Freundin Molly, die er als Sängerin zu den „Taints“ gebracht hat, ist vom „Musikvermittler“ Tabachnik entdeckt worden – und zwar in jeder Hinsicht. Als SadJoe Molly mit einer wilden Drumsession auf offener Straße versucht zurück zu gewinnen, muss er erkennen, dass es „seine“ Molly schon nicht mehr gibt ...

Rhythmus und Tempo
Benioffs Storys haben ihren eigenen Rhythmus. Die Figuren sind behutsam gezeichnet, es gibt poetische Momente, langsame Passagen, in denen die Sprache ihre Schönheit entfaltet, ohne dass auf der Ebene des Plots irgendetwas passierte. Und doch: Diese Geschichten haben Tempo. Bereits auf den ersten Seiten hat man das Gefühl, mittendrin zu sein in einer Szene, einem Setting, einem Drama. So verschieden die Anfänge im Detail sein mögen, sie haben doch alle die gleiche Wirkung: Man ist gepackt, neugierig, fragend – und schon nach ein paar Sätzen kein bloßer Beobachter mehr. Es wird dem Leser tatsächlich verdammt schwer gemacht, den Geschichten unbeteiligt zu folgen.

Scheherazade im Krieg
„Die Hunde waren verwildert. Sie streiften in Rudeln durch die Gegend, die Krallen lang, das Fell dicht und zerzaust und mit Disteln verfilzt. Als die Soldaten bei Morgengrauen aufbrachen, zählte Leksi jeden Hund, den er erspähte, eine Ablenkung, damit die Zeit schneller verging. Bei vierzig hörte er auf. Sie waren überall ...“ So beginnt „Der Teufel kommt nach Orechowo“, eine der eindringlichsten der acht Storys. Der russische Soldat Leksi erhält bei einem Patrouilleneinsatz in Tschetschenien den Auftrag, eine alte Frau in den Wald zu führen und sie zu exekutieren. Dort erzählt die Alte ihm die Geschichte vom Teufel, der nach Orechowo kommt. Leksi lauscht gebannt, träumt sich in die Märchenwelt hinein und verzweifelt zugleich an dem Befehl, der ihn in diesen Wald geführt hat. Eine bizarre, eine gespenstische Situation. Man denkt unwillkürlich an Scheherazades lebensrettende Erzählungen aus „1001 Nacht“, aber auch an die Arbeitslager-Literatur der großen russischen Autoren – und ahnt bereits, wie die Geschichte dieser Scheherazade enden wird ...

Das Phänomen Benioff
Kaum ein Schriftsteller pendelt so stilsicher zwischen den Erzählwelten von Film und Literatur wie David Benioff. Der 1970 in New York City geborene und immer noch dort lebende Autor legte 2002 mit 25 Stunden seinen Debütroman vor – er wurde von Spike Lee verfilmt, mit Edward Norton und Philip Seymour Hoffman in den Hauptrollen. Außerdem adaptierte Benioff den Bestseller „Drachenläufer“ fürs Kino – und machte aus ihm einen Riesenfilmerfolg auf der Leinwand. Auch als „reiner“ Drehbuchautor hat sich Benioff einen Namen gemacht, etwa mit dem Drehbuch für die Megaproduktion „Troja“. Sein zweiter Roman Stadt der Diebe (auf Deutsch 2009 erschienen) etablierte ihn dann endgültig auch beim lesenden Publikum.

Ein Heimspiel?
Nicht nur angesichts dieser Vita, sondern vor allem wegen der Qualität seiner Short Storys drängt sich der Eindruck auf, dass Benioff hier „sein“ Genre gefunden hat. Aber wer weiß: Wie in seinen Geschichten nehmen auch die Dinge des Lebens gerne unvorgesehene Wendungen, und vielleicht äußert auch David Benioff eines Tages einen ähnlichen Satz wie sein Geschöpf Molly, als sie SadJoe und seinen Old Galaxie mit den Worten verabschiedet: „Ich heiße jetzt Serenity.“

Carsten Hansen
(Literaturtest)
Berlin, Mai 2010

Alles auf Anfang

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