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Siba Shakib - Eskandar

SPECIAL zu Siba Shakib

Überleben in politisch schwierigen Zeiten - Siba Shakibs Roman „Eskandar“

Rezension von Sabine Schmitt

Mit ihrem Bestseller „Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen“, der bewegenden Geschichte der Afghanin Shirin-Gol, wurde Siba Shakib international bekannt. Im Mittelpunkt ihres neuen und nicht minder fesselnden Buches steht nun das bewegte Leben von Eskandar, einem Mann, dessen Schicksal die jüngere Geschichte Irans widerspiegelt. Von den ersten Ölfunden durch die Engländer zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum ersten Golfkrieg: Siba Shakib schildert eine schwierige Zeit voller politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Die Autorin selbst wurde in Iran geboren und arbeitet seit vielen Jahren als Schriftstellerin, Journalistin und Filmemacherin.

Dorf ohne Namen
Die Geschichte von Eskandar beginnt 1908 im Süden Irans. „Faack“ (fuck) ist das erste Wort, das der Neunjährige bei den Fremden jenseits des Berges aufschnappt. Trotz strenger Verbote ist er über den Gipfel geklettert, um herauszufinden, wie das Leben außerhalb des kleinen namenlosen Dorfes aussieht, das bis dahin seine Welt war. Im Dorf selbst herrschen Hunger und bittere Armut, denn schon seit einiger Zeit rinnt kein Wasser mehr durch die Wasserläufe längs der Gassen, die Felder verdorren. Die Trockenheit sei die Strafe Gottes für ihre Sünden, redet der Mullah den darbenden Bewohnern ein. Bis Eskandar das Geheimnis lüftet und erzählt, was er bei seinen Ausflügen beobachtet hat:

„Es ist wahr, ihr Haar ist gelb, ihre Gesichter sind weiß wie Käse, und kein Bart wächst darin. Essen haben sie so viel, dass sie sogar ihre Hunde mit Fleisch füttern.“ Was aber am meisten empört: „Sie haben Wasser. Und zwar so viel, dass sie sich damit sogar die Füße waschen.“
Unbekannte haben den Wasserstrom zu den Farangi, den Ausländern hinter dem Berg, umgeleitet.

Naft heißt Öl
Als Eskandars Eltern sterben, findet der Knabe Unterschlupf bei jenem britischen Expeditionsteam, das unterstützt von polnischen und kanadischen Experten, in der Nähe des Dorfes nach Naft, Erdöl, sucht. Der kanadische Ingenieur Richard hat Mitleid mit dem verwahrlosten Kind und nimmt es in seine Dienste. Eskandar wird dadurch Zeuge, wie nach acht Jahren aufreibender Suche in der Wüste die erste Ölquelle sprudelt. Ein Erlebnis, über das er Zeit Lebens nicht müde wird zu berichten.

Auch wenn die Ausländer ihren Fund ausgiebig feiern, die Mehrheit des iranischen Volkes hat keinen Grund zum Jubeln. Während die Iraner für eine Verfassung und ein Parlament kämpfen, ziehen einzig der König und seine englischen und russischen Verbündeten Nutzen aus dem Öl. Ein Großteil der Bevölkerung hingegen kann weder lesen noch schreiben und lebt in großer Armut.

Der Geschichtenerzähler
Dank der Fürsorge des Kanadiers Richard hat Eskandar mittlerweile lesen und schreiben gelernt und kennt die Verse des Koran. Er besitzt zudem ein Talent, das ihm im Laufe seines langen Lebens immer wieder Sympathien einbringt: Er kann hinreißend Geschichten erzählen und seine Zuhörer für alle möglichen Ideen begeistern. Diese Gabe weiß auch Hodjat der Freiheitskämpfer für seine Zwecke zu nutzen. An der Seite der Nationalisten kämpft er für eine Verfassung. Die Nationalisten wollen verhindern, dass das iranische Volk weiterhin ausgebeutet wird. Am liebsten würden sie den König samt seiner Verbündeten, den verhassten Engelissi und Russi, loswerden und stattdessen ein Parlament errichten. Dies aber ist ganz und gar nicht im Sinne der Engländer, denn nur solange der König die absolute Macht hat, können sie ungestört Erdöl fördern.

Eskandar begleitet die Kämpfer und feuert sie solange mit seinen Geschichten an, bis die Rebellen eines Tages in der Provinz Esfahan triumphieren:

„Einige Tage später kommt Hodjat mit einer großen, blutenden Schnittwunde am Oberschenkel aus der Schlacht zurück, doch er strahlt. Es ist vollbracht, sagt er. Wir haben die russischen und königlichen Truppen besiegt, wir selbst haben, Allah sei es gedankt, nicht so viele Verluste zu verzeichnen, und die Stadt ist in unserer Gewalt. Es lebe der Kampf für die Verfassung und das Parlament, ruft Hodjat unter Schmerzen, dann verliert er das Bewusstsein.“

Kein Recht auf Selbstbestimmung
Trotz der neuen Verfassung bleibt es schwer, die Rechte der Bevölkerung durchzusetzen. Das Privileg, lesen und schreiben zu lernen, bleibt auch weiterhin den Reichen vorbehalten.

Noch finsterer steht es um die Rechte der Frauen im Lande. Frauen werden wie Leibeigene behandelt und sind den Männern oft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Großes Leid wurde einst auch der Mutter von Hodjat zugefügt, wie der Freiheitskämpfer zu berichten weiß. Sie war noch ein kleines Mädchen, als ein Stammesfürst sie als Gegenleistung für nicht bezahlte Schulden auf sein Pferd zerrte. Geschändet und gebrochen kehrte sie später in ihr Dorf zurück.

“Im Winter haben die Reiter das Mädchen wiedergebracht. Sie hat ausgesehen wie eine alte Frau. Die Männer hatten ihr die Zähne ausgeschlagen, um ihre Lust in ihrem Mund zu befriedigen, und ihr Körper war übersät mit Wunden.“

Weibliches Kalkül
Dennoch trifft Eskandar im Laufe der Geschichte immer wieder auch Frauen, die sich subtil der Männerherrschaft zu widersetzen wissen. Eine davon ist Mahrokh-Khanun, die bildschöne junge Frau des mächtigen Landesfürsten Palang-Khan. Weil sie ein großes Vermögen mit in die Ehe gebracht hat, kann sie sich allerlei Freiheiten herausnehmen. Um der Enge des Harems zu entfliehen, reitet sie nachts als Mann verkleidet durch die Stadt. Auch scheut sie nicht davor zurück, den mittlerweile erwachsenen, aber noch unerfahrenen Eskandar zu verführen. Die Affäre kann auf Dauer natürlich nicht geheim bleiben. Angeblich zu seinem Schutz überredet sie Eskandar, eine Zeit lang in den Norden des Landes zu gehen und ihr derweil die kleine Roxana, das uneheliche Kind von Richard, zu überlassen. Aus Angst vor der Rache des mächtigen Palang-Khan lässt Eskandar sein über alles geliebtes Mündel bei Mahrokh-Khanun zurück, schwingt sich auf seinen Esel und zieht in den Norden, wo er etliche Abenteuer erlebt. Jahre später erst wird er Roxana wieder begegnen.

Im Hafen der Ehe
Viele Jahre gehen ins Land, bis so etwas wie Beständigkeit in Eskandars Leben einkehrt und er schließlich beim Kaufmann Nossrat-Agha in der Stadt Schiras eine Anstellung als Händler findet. Seine Mitmenschen finden, dass er mit nunmehr fast vierzig Jahren endlich heiraten müsse. Eskandar fügt sich in sein Schicksal und lässt sich mit einer Frau trauen, deren Gesicht er noch nie gesehen hat. Was wie ein Wagnis klingt, entpuppt sich als Glücksgriff. Aftab, seine Braut, ist schön und hat einen festen Willen. Die Trauung hat nicht zuletzt sie eingefädelt, um der Ehe mit einem sehr viel älteren Mann zu entgehen. Mit den gesellschaftlichen Verhältnissen mag sie sich nicht abfinden, deshalb zieht sie ihren Mann immer wieder in ihre politischen Aktivitäten mit hinein. Richtig brenzlig aber wird es erst, als das Paar 1941, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, nach Teheran umzieht.

Vom Recht auf Selbstbestimmung
In Teheran gerät Aftab mit den Behörden in Konflikt, weil sie sich weigert, in der Öffentlichkeit ihren Schleier abzunehmen, wie es seit einiger Zeit Vorschrift ist. Zwar ist sie für mehr Frauenrechte, will den Zeitpunkt, an dem sie unverhüllt auf die Straße geht, aber selbst bestimmen. Ebenso wie Aftab fühlen sich viele Frauen durch das Schleierverbot brüskiert. Die Mullahs nutzen dies aus, um Stimmung gegen den König zu machen. Schließlich zwingen die Alliierten König Resa-Khan, die Krone niederzulegen und das Land zu verlassen. Er hatte es gewagt, sich im Krieg mit den Deutschen zu verbünden. Die Frauen und die Mullahs haben scheinbar gesiegt. Nachfolger des Königs wird sein einundzwanzig Jahre junger Sohn, Mohammad-Resa. Doch unter dessen Regentschaft kommt es zu noch viel blutigeren Unruhen.

Immer in Bewegung
Derweil will es der Zufall, dass Eskandar eine Anstellung als Büroschreiber beim Gegenspieler des jungen Schah, Premierminister Mohammad Mossadegh, findet. Obwohl er langsam in die Jahre kommt und sich nichts weiter als ein bescheidenes, aber friedliches Leben wünscht, ist ihm gerade dies nicht vergönnt. Zu unruhig und ungerecht sind die Zeiten, immer wieder werden Familienmitglieder – und nicht zuletzt er selbst – in den Strudel politischer Unruhen mit hineingezogen. Immer wieder muss er um sein Leben fürchten.

Am Ende kann Eskandar auf rund hundert bewegte Lebensjahre zurückblicken, die voller politischer Umbrüche waren. Allerdings waren es nie die einfachen Leute wie er selbst, die davon profitierten.

Wider Machtinteressen und Unvernunft
Trotz vieler Schreckensszenen, die der Romanheld im Laufe seines Lebens miterleben muss, ist „Eskandar“ ein poetisches und optimistisches Buch. Es bezaubert durch seine einfache und bildhafte Sprache und gewährt faszinierende Einblicke in eine fremde Kultur. Siba Shakibs Roman zeigt so nicht zuletzt, dass der Mensch nie aufhören darf, für Freiheit, Bildung und Gerechtigkeit zu kämpfen, egal wie mächtig die Gegenspieler auch sein mögen. Ein Plädoyer für Zivilcourage und gesunden Menschenverstand jenseits weltpolitischer und ökonomischer Interessen.
Sabine Schmitt
Mainz, Juni 2009