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SPECIAL zu Karl Ove Knausgård »Alles hat seine Zeit«

Gefallene Engel

Rezension von Ulrike Künnecke

Er hatte die Engel gesehen. Als Antinous Bellori elf Jahre alt war, hatte er sie leibhaftig und mit eigenen Augen gesehen. Seitdem ließen sie ihn nicht mehr los. Zweiundzwanzig Jahre später, im Jahr 1584, veröffentlichte er in Venedig sein Werk "Über die Natur der Engel". Antinous Bellori ist ein (fiktiver) Engelsgelehrter, entlang dessen Geschichte der norwegische Autor Karl Ove Knausgård seinen fulminanten Roman entfaltet - wobei "Roman" hier nur als recht hilfloser Versuch gelten darf, ein außergewöhnliches Werk zu kategorisieren. Knausgård wagt den großen Wurf. Und er gelingt.

Eine Zeit für alles
"Alles hat seine Zeit" ist der zweite Teil einer Trilogie, an deren abschließendem dritten Teil der Autor gerade arbeitet. Wie die beiden ersten soll auch der dritte Band wieder für sich stehen, inhaltlich wie stilistisch. In diesem, seinem hymnisch gefeierten und preisgekrönten zweiten Werk wechselt Knausgård virtuos zwischen lebensfroher Sinnlichkeit und komplexer Reflexion, zwischen biblischer Erzählung, Familienroman und wissenschaftlichem Essay. Sein Roman verhält sich wie ein Fluss, ist mal reißend und schnell, mal verspielt und munter plätschernd, mal durch gedankliche Abstraktion in ein festes Bett gezwungen, ernst und konzentriert. Und immer geht es dabei um die Menschen, die Engel und ihr Verhältnis zueinander. Wie Bellori reist auch Knausgård auf den Spuren der Engel durch die Zeiten, als wären diese nichts, "als gäbe es in Wirklichkeit nur eine Zeit für alles; einen einzigen Augenblick, eine einzige Landschaft, in der das, was geschieht, in endlosen Kettenreaktionen das aktiviert und reaktiviert, was geschehen ist."

Lot und die Engel
Auf der Suche nach dem Ursprung der Engel landen wir zunächst im Hause Lot in Sodom. Zwei Engel sind erschienen, um das weitere Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner zu entscheiden; Engel, die zwei Welten angehören, der göttlichen und der menschlichen. Knapp heißt es dazu in der Bibel: "... und er [Lot, Anm. d. Verf.] machte ihnen ein Mahl, und buk ungesäuerte Kuchen, und sie aßen." Doch was geschah sonst noch an diesem Tag? Was für ein Mensch war Lot? Und wie fühlten sich die Engel in seinem Hause? Auch wer sich diese Fragen noch nie gestellt hat, liest gespannt weiter, um zu erfahren, welche Antworten der Autor darauf bereithält.

Bewusstsein und Begierde
Der Bibelkenner weiß, dass die Geschichte für Lot nicht gut endete. Zwar rettete er sein eigenes Leben, aber seine Frau erstarrte beim Blick zurück auf ihre Heimatstadt Sodom zur Salzsäule, und wenig später schwängerte Lot auch noch betrunken seine beiden Töchter. Wie dieses Verhängnis seinen Lauf nahm, beschreibt Knausgård fesselnd und in einer Sprache von geradezu urwüchsiger Kraft: "Denn so dicht können sich die Gedanken der Begierde über dem Himmel des Bewusstseins verfilzen, dass nicht einmal ein schmaler Streifen Licht zur Seele hinabreicht, deren dunkler und feuchter Grund alles Leben außer den niedrigsten Lebensformen ausschließt; Moose und Pilze, Käfer und Gewürm, die eine oder andere schleimige Schnecke, die blind im Morast kriecht."

Biblische Gestalten an ungewohntem Ort
Die norwegische Landschaft und ihre mystische Ausstrahlung durchziehen den gesamten Roman, die biblischen Gestalten bevölkern ganz ungewohnte Schauplätze. Von Lot geht die "Reise durch Norwegen" weiter zu Kain und Abel. Wie kam es zu diesem gemeinen Brudermord? Und welche Rolle spielten die Engel dabei, die Cherubim, jene hochstehenden Vertreter Gottes auf Erden, die den Weg zum Baum des Lebens bewachen?

Jahrhunderte nach dem Mord an Abel geht es dann in einer weiteren biblischen Geschichte erneut um eine schwere Schuld: Noah erhält den Auftrag, eine Arche zu bauen, in der Gott nur ihn und seine nächste Familie vor der Sintflut retten will. Doch was ist mit Noahs Schwester Anna, die ihn flehentlich um Aufnahme in das Boot bittet? Was ist mit dem Säugling auf ihren Armen? Und wie soll Noah, der ihnen, seinem göttlichen Auftrag entsprechend, die Aufnahme verweigert, nach seiner Rettung mit dieser Schuld weiterleben?

Gefallene Engel, fatale Nähe
So reisen wir durch die Zeiten, auf den Spuren biblischer Gestalten, leben und leiden mit ihnen, als geschehe alles jetzt, in diesem Moment - bis wir schließlich unversehens wirklich in der Gegenwart landen. Die Engel scheinen nun tief und tiefer gefallen zu sein. Ihr Wunsch, dem Menschen nahe zu sein, wurde ihnen zum Verhängnis, sodass sie heute vielleicht nur noch in der Gestalt klagender Möwen erscheinen: "Im Gegensatz zu anderen Vögeln suchten sie die Nähe des Menschen und hingen hinter den Booten, die zum Fischen auf See waren, wie Schleier am Himmel, und stießen ihre melancholischen Klagerufe aus".

Doch auch dem Menschen kann die Nähe zu seiner eigenen Art fatal erscheinen. Mit Henrik Vankel, einem jungen Mann, landen wir schließlich in der selbstgewählten Einsamkeit einer winzigen norwegischen Insel: "... es war das Menschliche an sich, was ich hinter mir lassen wollte. Nicht andere Menschen, sondern die gesamte Vegetation aus Gefühlen, die in mir gedieh, wenn ich ihnen gegenüber stand ...". Es gibt Situationen, in denen man die Haltung Henriks uneingeschränkt teilt. Doch schon während der letzten Seiten dieses großartigen Buches ahnt man, dass man sich nach ihm zurücksehnen wird - weil man Menschlichem und Engelhaftem noch nie so nahe gekommen ist.
Ulrike Künnecke
(Literaturtest)
Berlin, November 2007

Alles hat seine Zeit

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