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73 Ouvertüren – Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft

73 Ouvertüren – Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft

Das erste Buch

Von Arnold Stadler

Damals, als ich zwischen Großvater und Vater, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, an jenem großen Eßtisch saß, gab es außer den Leibspeisen auch jene große Bilderbibel, die ich an jenem Tisch aufschlug. Der Himmel schien nur einen Kondensstreifen weit entfernt zu sein. Und wenn ich die große Bilderbibel aufgeschlagen hatte, dann eröffnete sich die Welt auf der anderen Seite meiner Augen. Es war so viel zu sehen in der Morgenfrühe meines Lebens: Von Anfang an sah und las ich Staunenswertes. Als Kind schon bald, und auch bald nach dem ersten Satz »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«.

Die Bibel ist das erste Buch, an das ich mich erinnern kann. Am schönsten fand ich, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht (es wäre aber eine schöne Täuschung), die Bilder von der Arche. Dieses wohlgeordnete Warten und Hineinschreiten ist das schönstmögliche Bild der Rettung, schon einem Kind verständlich gemacht durch das Zeigen. Noch bevor ich lesen konnte, sah ich. [...]

Beim Öffnen der Bibel

Gerade beim Öffnen der Bibel eröffnet sich etwas. Ein Weltraum. Der Himmel und seine Wunder. Warum all diese schönen Bilder und Sätze wegerklären? Dazu ist der Mensch nicht auf der Welt, schon gar nicht ein Sprachmensch.

Für einen Leser, der gewillt ist, zwischen Rätsel und Geheimnis zu unterscheiden, birgt dieses Buch aus vielen Büchern Rätsel und Geheimnis zugleich. Ein Rest an Unerklärbarem bleibt. Das ist entscheidend. Denn, so sagt es der heilige Augustinus: »Wenn du es begriffen hast, ist es nicht Gott«.

Wenn wir alle Bausteine zusammenhaben und die Wörter erklärt, haben wir noch immer keine Ahnung von dem, was dieses Bild, dieses Gedicht, dieses Buch und diese Bibel sein soll oder ist, wenn nicht die Heilige Schrift.

Die Summe der einzelnen Erkenntnisse und Infos ergibt noch keinen Sinn. Da sind wir noch auf der Hebebühne in der Autowerkstatt. Diese Einsicht ist heute ja Sensus Communis unter den Exegeten, die ja oftmals auch Sprachmenschen sind. Die Tür geht nach innen auf beim Lesen. Nur beim Öffnen des Buches kommt uns die Seite entgegen.

Die Bibel ist eine Partitur und eine Brücke, die den Schreibenden mit dem Lesenden verbindet. So ist es ein Joint Venture.

Es gehören beim Lesen und Schreiben immer zwei dazu. Wie bei der Liebe.

Wie beim ersten Mal

Das ist meine Vorstellung: daß ich immer wieder neu lese. Die schönste Lektüre der Bibel wäre doch die, als wäre es das erste Mal. Oder wenigstens so, daß es ein Wiedersehen und eine Wiederbegegnung mit dem besten Freund ist. Ein solches Buch ist die Bibel, und vor allem ist das Evangelium eine derartig frohe und zuversichtliche Botschaft, die als Lebensbegleiter einen Menschen und Leser bis zum Ende seiner Zeit zu tragen vermag, und weiter: mit dem Satz am Ende des Matthäusevangeliums: »Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt«.
Dem Leser, der mit dem »Vorschuß der Sympathie« dieses eine Buch immer wieder aufs Neue in die Hand nimmt, ist es ein Lebensmittel. Eine Lesefrucht.

Der ideale Leser dieses Buches ist aber wohl jener, der in Sätzen seine Zuflucht zu finden vermag. Als hätte er jenen Roman gekannt und gelesen: Wenn es schon keine Menschen fürs Leben gibt, so gibt es doch Sätze. Und eine Hoffnung über Leben und Tod hinaus, die im Wort Adieu – zu Gott – aufgehoben ist. Das Wort Gottes, wie es für uns in der Bibel aufgehoben und vergegenwärtigt ist: Wie schön wäre es, gäbe es, wie auch sonst im Leben, zwei oder so viele Erben, wie auch sonst im Leben. Und wenn sich diese Erben verstünden, ja, aus diesem Erbanteil lebten, so wäre dies die schönste Lesefrucht. So viele Erben wie Leser.

Finis
Das Glück stellt sich für einen Menschen, der Leser ist, beim Lesen ein – mit einem Ertrag, als wäre es von einer Ernte: daß das, was bleibt, Liebe ist. Wenn er ein Buch zu Ende gelesen hat, ist es wie auf einem Nachhauseweg, und das glücklich gelesene Buch wird diesen Menschen von nun an in ein neues Leben begleiten.



Auszüge aus dem Vorwort von Arnold Stadler

73 Ouvertüren

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