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Álvaro Enrigue im Interview zu „Aufschlag Caravaggio“

„Ich wollte mit Caravaggio arbeiten, weil er so viel über uns aussagt“

Álvaro Enrigue über seinen Roman „Aufschlag Caravaggio“

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Roman zu schreiben, in dessen Zentrum ein Tennisspiel steht? Spielen Sie selbst Tennis?

Álvaro Enrigue: Es gibt zwei Arten Schriftsteller: solche, die denken, Bücher gehen aus Erfahrungen hervor, und solche, die denken, Bücher gehen aus Büchern hervor. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Ich glaube nicht, dass es beim literarischen Schreiben um Empathie geht, die sich aus der Darstellung unserer jämmerlichsten und tollsten Lebensmomente speist. Es geht vielmehr darum, Stellung zu beziehen, sich mit Ideen zu wehren. Handlungsstränge sind in diesem Sinne lediglich Vehikel, um die Probleme auf den Tisch zu bringen, sich damit auseinanderzusetzen, was falsch ist. Ein Roman ist ein Kunstobjekt und eine Form politischen Handelns.
Das Tennisspiel im Roman ist eine erzählerische Spielerei, eine abstrakte Form, die es mir ermöglicht, mit der Idee von einer zweigeteilten, diametral angeordneten Welt zu arbeiten, in der manche angegriffen und andere verteidigt werden. Also eine begrenzte Welt, wie die Erde es für die erste Generation moderner Menschen war, letztendlich ein komplett kartografierter Raum, ein rundes Ding, so konkret und fest umrissen wie ein Tennisball. Es sollte ein Roman werden, der wie ein Band von Sonetten funktioniert: eine ausgewogene, geometrische und präzise Form, die in sehr prägnanten und wirkungsvollen Wortverkettungen ein Problem und dessen Lösung beschreibt. Die beste Methode, die ich gefunden habe, um meine Figuren in Aktion treten zu lassen, sie an ihre Grenzen zu bringen, wo sie an Bedeutung gewinnen konnten, bestand darin, sie auf einem Tennisplatz zu zeigen, als Sonette in Bewegung, als Substantive höchst explosiver literarischer Einheiten.
Ich bin also kein Fan von Tennis oder spiele es – ich verplempere schon genug Zeit damit, beim Baseball zuzusehen, und auf meinem Fahrrad wie ein Bekloppter durch New York City rasen –, aber ein Tennisspiel und ein Tennisplatz boten mir den Raum und den Rhythmus, den dieses Buch brauchte, damit es einem sagen kann, was es zu sagen hat.


Die Hauptfiguren des Romans sind Francisco de Quevedo and Michelangelo Merisi da Caravaggio. Was fasziniert Sie an diesen beiden Künstlern?

Álvaro Enrigue: Ich wollte schon seit Jahren einen Roman über Caravaggio schreiben, weil ich glaube, dass sein Leben, seine Haltung, seine Einstellung gegenüber dem Wert, dem Arbeitsprozess und dem Ansehen von Kunst eine Menge über unsere heutige Welt aussagt. Im Grunde genommen ist er der Erfinder dessen, was für unsere Auffassung davon, was moderne Kunst ist, konstitutiv ist. Er entdeckte, dass das, worauf es beim Erzeugen, beim Schaffen von etwas ankommt, der Arbeitsprozess ist, und das eigentliche Kunstobjekt nur eine Ausdrucksebene mit finanziellem Wert. Er lebte nur nach seinen eigenen Regeln und zahlte für die Folgen auf eine pathetische, herrliche Art und Weise. Er war der erste Künstler, der verlangte, an anderen moralischen Maßstäben gemessen zu werden, weil Kunst ihre eigenen Vorgaben und Forderungen hat.
Ich wollte mit Caravaggio arbeiten, weil er so viel über uns aussagt. Aber ich wollte keinen langweiligen historischen Roman schreiben – erschießen Sie mich bitte, sollte ich das je tun –, deshalb habe ich jahrelang Biografien und Studien über ihn gelesen. In der eines österreichischen Kunsthistorikers bin ich dann auf den Hinweis gestoßen, dass er ein ausgezeichneter Tennisspieler war und, bevor er erkleckliche Geldsummen mit seiner Malerei einsackte – die er übrigens für endlose, wilde Partys ausgab – sich gern ein bisschen Taschengeld verdiente, indem er auf den öffentlichen Plätzen an der Piazza Navona spielte, damit die Leute auf ihn setzten. Ich dachte, ihn dorthin, aufs Spielfeld zu stellen, würde ihn vom Podest des grandiosen Künstlers und Verbrechers herunterholen, als den wir ihn kennen. Ihn einem Ball hinterher jagen zu sehen, würde ihm die Menschlichkeit verleihen, die ihn zu dem machen kann, was er war: unser Bruder, einer, der dachte, er schlage sich ganz gut, es aber hätte besser machen können, ein blindes Opfer der Mächtigen, wie wir alle.
Sobald ich Caravaggio im Sinn hatte – durch und durch derb und aalglatt –, Schläger und Ball in den Händen, bereit zum Aufschlag, hatte ich fast augenblicklich auch die andere Hälfte des Spielfelds vor Augen. Der den Aufschlag annimmt, musste Francisco de Quevedo sein, sein Dichterzwilling und absolutes Gegenteil. Wie Caravaggio war auch Quevedo in einer Zeit großer Kunstschaffender ein außergewöhnlicher Künstler und ebenfalls ein krimineller Mistkerl: unglaublich tiefsinniger und kluger Verfasser formvollendeter Gedichte und Mörder, Übersetzer von Thomas Moores Utopia und Pirat im Adriatischen Meer, ein Spion, der die stärksten und intelligentesten erotischen Gedichte verfasste, die je geschrieben wurden, der brillanteste Kritiker des spanischen Imperiums und einer seiner erfolgreichsten Agenten. Das einzig mögliche Gegenstück zu Caravaggio, dem jähzornigen Schutzheiligen all jener, die glauben, Sexualität sei etwas Fließendes und Multiples, war Quevedo, das heterosexuelle Untier.

Im Roman geht es um Kunst, Geschichte und Politik am Übergang von der Renaissance zum Barock. Was interessiert Sie an diesen beiden Epochen?

Álvaro Enrigue: Es gibt unterschiedliche Theorien zum Beginn der Moderne. Meine Lieblingstheorie, schon allein aufgrund ihrer Überspitzung, ist die von Jean-François Lyotard: „als Paulus schrieb, die Zeit sei linear und nicht zirkulär“; aber das ist natürlich die Antwort eines Philosophen. Zeitgenössische Historiker der Moderne – oder der „frühen Neuzeit“, so der korrekte Begriff – verorten ihren Beginn genau zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert. Das war ein kritischer Zeitpunkt: Als Reaktion auf die Reformationsbewegung hatte Roms Kirche die Zügel gerade wieder angezogen, in der ersten Bemühung, die Welt auf Linie mit einer einzigen Ideologie zu bringen. Der Katechismus wurde geschrieben und publiziert, und der Akt dieser Veröffentlichung stand dafür, dass es nur eine angemessene Art eines allgemein gültigen Denkens und Handelns gibt. Das hieß aber auch, dass, wenn von allen das gleiche Verhalten erwartet wurde, auch alle gleichgestellt waren und dieselben Rechte hatten. Diese Vorstellung gehörte schon immer zur christlichen Theologie, der Katechismus machte sie jedoch allgemein bekannt: Jetzt musste jeder lesen lernen. Eine echte Revolution. Hinsichtlich des Austauschs zwischen den Kulturen brach an, was Historiker die erste Globalisierung nennen. In dem Moment, als Tenochtitlan, die Hauptstadt des Aztekenreichs, Hernán Cortés in die Hände fiel, gab es endlich eine sichere, dauerhafte und sichere Möglichkeit, China zu erreichen. Im Roman gibt es eine Szene, in der ein römischer Bankier Schokolade aus einer chinesischen Porzellantasse schlürft – es hat die Menschen auf der italienischen Halbinsel 7500 Jahre und unzählige Blutbäder gekostet, bis ihnen das möglich war. All das, ohne davon zu sprechen, was im faszinierendsten aller Gelände im Gange war, nämlich im menschlichen Geist: Galileo Galilei, Caravaggio und Cervantes waren Zeitgenossen, und die drei Instrumente, die uns zum Verständnis der Welt noch immer zur Verfügung stehen – die moderne Physik, die moderne Kunst und der moderne Roman – wurden zeitgleich erfunden und waren, sehr zum Missfallen des Vatikans, viel erfolgreicher als der Katechismus, wenn es darum ging, allgemein gültige ideologische Standards zu setzen.
Muerte Súbita ist ein Artefakt zur Erzeugung von Literatur, eines Romans, deshalb wird darin alles, selbst das Historische, zum Fiktionswerkzeug. Das heißt, seine Prämissen stimmen: Caravaggio und Galileo Galilei wohnten eine Zeitlang im selben Palast und pflegten gemeinsam herumzuhängen, Quevedos Boss war tatsächlich mit der Enkelin von Hernán Cortés verheiratet, und Karl V. – oder Karl von Spanien (und von Deutschland!) – boykottierte die Trienter Beschlüsse und unterbrach das Konzil schließlich, weil sein Lieblingsgegner im Tennis Heinrich VIII. von England war. Wir sind das Produkt von allem, was diese Generation über den Menschen und Humanität dachte, ihr Glanz ist ebenso auch unserer wie ihre dunklen Seiten.


Im Roman geht es viel um die blutige Eroberung des Aztekenreichs durch Hernán Cortés. Inwieweit ist diese Tragödie in Mexiko auch heute noch Teil des öffentlichen Diskurses?

Álvaro Enrigue: Oliver Sacks schreibt in seinem wunderbaren Reisebericht über den mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, er habe noch nie ein Volk gesehen, das besessener von seiner Geschichte ist als die Mexikaner. Der Taxifahrer, der ihn am Flughafen abholte, wollte nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten von ihm wissen: „Also, Sie als Amerikaner, auf welcher Seite stehen Sie bezüglich der Eroberung?“ Wir diskutieren immer noch darüber, was in diesen ungeheuerlichen fünf Jahren passierte, in denen das Reich der Azteken aufgelöst wurde und das Vizekönigreich Neuspanien noch vollkommen uneinheitlich war, wir sind, was wir sind aufgrund dessen, was von dieser Gruppe absoluter Irrer vereinbart wurde.


Sie sind Enkel spanischer Einwanderer, die in den 1940er-Jahren vor dem Franco-Regime geflohen sind, wurden in Mexiko geboren und leben jetzt in New York. Was ist Ihre persönliche Ansicht über die spanische und mexikanische Geschichte?

Álvaro Enrigue: Nicht nur ein Flüchtlingsenkel, auch meine Mutter ist vor dem Spanischen Bürgerkrieg geflohen. Was praktisch bedeutet, dass ich in einem Haushalt aufwuchs, in dem man Europa als den Ort sah, aus dem die wertvollen Menschen vertrieben wurden, damit die Halunken ungehindert Profit machen konnten. Ich wurde als Mexikaner erzogen, als Mensch, der stolz darauf ist, in einem freien Land zu leben, wo man, wenn man hart arbeitet, alles hat, was man braucht. Das stimmte natürlich nicht, aber so habe ich es in der Schule und daheim gelernt. In Mexiko gab es auch einen Bürgerkrieg, den haben aber die Richtigen gewonnen, die Revolucionarios. In Europa waren sie nicht so erfolgreich, auch, wenn sie die Sieger waren – weil die Sowjetunion sie reinlegte. Jetzt macht Europa seine Sache besser, und Mexiko ist am historischen Tiefpunkt in seiner zweihundertjährigen Geschichte als unabhängige Republik. Es ist schon interessant, was sich in einem Menschenleben alles ereignen kann – dabei bin ich noch gar nicht so alt, erst 45.


AUFSCHLAG CARAVAGGIO erinnert an die Romane von Umberto Eco: ein raffinierter Plot vor einem historischen Hintergrund, modern erzählt. Welche Schriftsteller würden sie als Ihre literarischen Vorbilder ansehen?

Álvaro Enrigue: Umberto Eco war als jugendlicher Leser ein ziemlich wichtiger Autor für mich. Ich glaube, meine ganze Generation drehte wegen "Der Name der Rose" durch, das waren diese sehr seltsamen Zeiten, in denen es cool war, über Mönche und Bibliotheken zu schreiben. Ich weiß nicht genau, ob ich Autoren als literarische Vorbilder habe, tendenziell bewundere ich Musiker mehr als Schriftsteller. Aber es gibt welche, auf die ich immer wieder zurückgreife: San Juan de la Cruz, José Lezama Lima, Montaigne; El Quijote und Pedro Páramo von dem mexikanischen Autor Juan Rulfo sind Bücher, die ich immer wieder lese. In Ihrem Spielfeld – damit meine ich die deutsche Sprache – ist Rilke essenziell für mich, und Joseph Roth. In meiner Ausbildung waren Mann, Musil und Bernhard wichtig, auch wenn ich nicht glaube, dass ich sie noch mal lese. Wie auch immer, ich halte diese Autoren für nicht einflussreicher als die Filme von Bergmann oder bestimmte Songs der Rolling Stones.


Schreiben Sie bereits an Ihrem nächsten Buch? Wenn ja, wovon wird es handeln?

Álvaro Enrigue: Ich würde durchdrehen, wenn ich nicht an einem Buch säße. Das nächste beschäftigt sich mit dem Apachen-Krieg. Da gab es 1889 diesen Moment, in dem die Apachen schließlich aufgaben, nachdem sie zwei der besten Armeen der Welt, die mexikanische und die amerikanische, vierzig Jahre lang in den Wahnsinn getrieben hatten. Sie ergaben sich am Ende der amerikanischen Armee, weil diese ihnen angeboten hatte, sie in einem Lager in Florida am Leben zu lassen, und weil sie wussten, wenn die Mexikaner sie erwischten, würden die sie einfach umbringen. Mexiko und die Apachen haben sich fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bekriegt, und es war ein wirklich grausamer Krieg. Also schickten die Amerikaner ein Aufgebot Blaujacken tief in die mexikanische Sierra Madre, um die Kapitulation der Apachen entgegenzunehmen, sie nach Norden zurückzugeleiten und sie vor den Mexikanern zu schützen. Im texanischen San Antonio wurde ein Zug bereitgestellt, um die legendäre Armee der Tapferen, die gekämpft hatten wie noch kein Feind vor ihnen, in Empfang zu nehmen – und einzusperren. Es gibt eine Fotografie vom Tag ihrer Ankunft an diesem Zug: Sie teilten sich eine einzige Kutsche, denn es waren nur dreiundzwanzig, einschließlich Frauen und Kindern. Unter ihnen befanden sich Gerónimo, Nana und Mangus, Namen, von denen man nur schwer glauben kann, dass sie einmal zu einem wirklichen Menschen gehört haben. Menschen mit einer solchen Widerstandskraft verdienen einen Roman, verdienen, dass alle Romane über sie geschrieben werden.

Übersetzung: Barbara Häusler