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SPECIAL zu Amitav Ghosh

Das Opium, das eines jeden Sinne benebelt

Eine Rezension von Henrik Flor

Es scheint geradezu ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein, Dinge zu ordnen, zu klassifizieren und zu etikettieren. Eine immer komplexer werdende Welt will er auf diese Weise erfassen und berechenbar machen. Und so werden auch Bücher rigoros kategorisiert, verstichwortet und einsortiert in das Regal „Abenteuerroman“, „Sozialdrama“, „Historischer Roman“… Amitav Ghosh entzieht sich mit seinem neuen Roman „Das mohnrote Meer“ dem Schubladendenken und zeigt Indien in seiner ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Sein neuer Roman „Das mohnrote Meer“ ist ein erzählerisches Füllhorn, ein Fabulierschatz, der ebenso Kulturgeschichte wie große Gefühle bereithält, Magie und drastischen Realismus, Poesie und Abenteuer.

Das große Geschäft mit dem Opium
Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf etwa fünfzig Meilen von Benares im Jahr 1838. Die englische Kolonialmacht zwingt die Bauern mit brutalen Mitteln, statt der dringend benötigten Lebensmittel Opium anzubauen. In der monströsen Sudder Opium Factory in Ghazipur werden die indischen Arbeiter geschunden und ihrer Gesundheit beraubt. Der Betreiber, die Ostindien-Kompanie, bedient Kranke und Süchtige in der ganzen Welt mit dem Rauschmittel. Sie ist eine Art staatlich organisiertes Drogenkartell und macht als solches das Geschäft des Jahrhunderts. Um sich Zugang zum chinesischen Markt zu verschaffen, schreckt es auch vor kriegerischen Mitteln nicht zurück. Der 1. und 2. Opiumkrieg zwingen China zur Öffnung: In der Folge überschwemmt Opium auch das Reich der Mitte. Das Ende der großen Hegemonialmacht China beginnt, eine ganze Region gerät ins Wanken. So erzählt Ghosh hier auch eines der düstersten Kapitel der britischen Kolonialgeschichte.

Blinde und Seherin
Diti ist die unglückliche Heldin des Romans, deren Weg der Leser von ihrem Heimatdorf aus, dann den Ganges entlang, bis zum Meer verfolgt. Noch ein Kind, wird sie an einen viel älteren Mann verheiratet, der, wie sich herausstellt, bereits dem Opium verfallen und zeugungsunfähig ist. In der Hochzeitsnacht wird sie betäubt und von ihrem Schwager vergewaltigt, damit sie schwanger wird – so wie es ihre neue Familie erwartet.

Schon immer sagte man Diti besondere Fähigkeiten nach: „Sie hatte hellgraue Augen ... Die Farbe – oder Farblosigkeit – ihrer Augen bewirkte, dass man sie zugleich für eine Blinde und eine Seherin halten konnte.“ Und tatsächlich hat sie bald Visionen von einem stattlichen Schiff, das hier, in ihrem Dorf, vierhundert Meilen vom Meer entfernt, auf dem Ganges treibt. Später erfährt sie, dass das Schiff mit dem markanten Schnabel am Bug tatsächlich existiert – am Ende soll es zu ihrem Schicksal werden.

Das Geisterschiff
Die Ibis, der Zweimastschoner aus Ditis Vision, ist ein früheres Sklavenschiff, das eigentlich zum Opiumfrachter umgebaut werden sollte. Es wird zum apokalyptischen Narrenschiff zahlreicher Gescheiterter, auf dem sich auch Diti wiederfindet: befehligt von einem farbigen Schiffszimmermann, manövriert von einem Trupp karnevalesker indischer Matrosen, mit Dutzenden versklavter „Kulis“ im Laderaum und einer Handvoll Flüchtlinge, die sowohl die brutale Kolonialherrschaft als auch das menschenverachtende Kastensystem hervorgebracht hat.

Alle Handlungsstränge laufen hier zusammen; die Protagonisten versammeln sich gleichsam zu einer letzten Fahrt auf das Meer: Kalua, ein beschränkter Hühne, der Diti nach dem Tod ihres Mannes das Leben rettet; Raja Nil Rattan, der ehemals mächtige Zamindar von Raskhali, dem die Engländer Macht, Ehre und Reichtum nahmen; Jodu, dessen eigenes Schiff von der Ibis zermahlen wurde; dessen französische Ziehschwester Paulette, die die Leidenschaft ihres Vaters für die indische Botanik geerbt hat; Babu Nob Kissin, ein allzu frommer Buchhalter, der in dem Schiffszimmerer eine Gottheit entdeckt zu haben meint... Ein Schiff, das der Ruhr trotzt, seinen Passagieren Glück verheißt, diese Hoffnung aber nicht einlösen kann.

Die Flüchtlinge wagen nicht nur die Fahrt den heiligen Ganges hinab, sondern auch aufs offene Meer: dorthin, wo, wie der Leser auf der ersten Seite des Buches erfährt, der Abgrund der Finsternis beginnt: das „Schwarze Wasser“, kala-pani.

Das große indische Epos
Amitav Ghosh ist ein großer Geschichtenerzähler, ein intimer Kenner seiner Heimat, der weder eine klischeehafte Exotik inszeniert noch auch nur ansatzweise geneigt ist, die Kolonialzeit zu verklären. Dabei fällt es ihm leichter als seinem großen Landsmann Salman Rushdie, den Leser mitzunehmen und für eine konstante Spannung zu sorgen: Er verzichtet auf lange Exkurse in die Mythologie des Landes und erzählt routiniert gleich mehrere opulente, aber ungeschönte, „magisch-realistische“ Abenteuer- und Liebesgeschichten, die in ein geradezu existenzialistisches Experiment an Bord der Ibis münden. Ghosh hat mit „Das mohnrote Meer“ eines der großen Epen Asiens verfasst.


Henrik Flor
(Literaturtest)
Berlin, August 2008