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Anne B. Ragde - SPIEGEL-Bestsellerautorin aus Norwegen

Sex, Lügen und ein Schweinezüchterhof

Feature von Ulrike Künnecke

Wie landet man einen Bestseller? „Du darfst auf keinen Fall über drei Brüder auf einem Schweinezüchterhof in einem Kaff bei Trondheim schreiben“, so die Antwort der norwegischen Erfolgsautorin Anne B. Ragde – die allerdings eine glatte Lüge ist. Mit dem Roman „Das Lügenhaus“ und den Fortsetzungen „Einsiedlerkrebse“ und „Hitzewelle“ stürmte die 1957 geborene und im westnorwegischen Trondheim lebende Autorin die Bestsellerlisten und gewann diverse norwegische Literaturpreise. Bereits seit 1986 hatte sie Kinderbücher, Krimis, Erzählungen und Romane veröffentlicht, ehe sie nun mit dieser Familiengeschichte ein riesengroßes und begeistertes Publikum fand.

Schweinezucht und schwarze Schafe
Im Zentrum des Geschehens steht ein verkommener Hof im landschaftlich reizvollen westnorwegischen Byneset. Tor, der 55-jährige Anerbe des Hofes Neshov, lebt dort mit seiner resoluten Mutter Anna und seinem schattenhaften Vater. Die Schweinezucht, die er mühsam und doch mit Leidenschaft betreibt, kann den Menschen dort kaum ihr kärgliches Überleben sichern.

Tor hat zwei Brüder: Margido ist 52 Jahre alt, lebt allein unweit des elterlichen Hofes und betreibt ein florierendes Bestattungsunternehmen. Nach einem Streit vor vielen Jahren hat er allerdings keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Ebenso wenig wie Erlend, das „schwarze Schaf“ der Familie. Der 40-Jährige ist homosexuell und hat seine Heimat vor mehr als 20 Jahren verlassen. Er lebt gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Krumme in der dänischen Metropole Kopenhagen, ist dort als kreativer Schaufenstergestalter zu Wohlstand und Ansehen gekommen und rundum zufrieden mit seinem Leben. Doch plötzlich überstürzen sich auch für ihn die Ereignisse.

Ein unfreiwilliges Familientreffen
„Er wurde davon geweckt, dass Krumme sich über ihn beugte, mit dem Telefon in der Hand, es war ziemlich hell im Zimmer. ‚Erlend, Du musst aufwachen. Bist Du wach?‘ ‚Weiß nicht.‘ Krumme fand seine linke Hand, schloss seine Finger um den Telefonhörer und flüsterte: ‚Da ist ein Norweger. Er behauptet, Dein Bruder zu sein. Ich wusste ja nicht einmal, dass du einen Bruder hast.‘“

Anna, die Mutter der drei ungleichen Brüder, ist nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen und liegt im Sterben. Die seit langem zerstrittene Familie wird zusammengerufen – und zu dieser gehört auch Torunn, Tors uneheliche Tochter, deren Mutter die nun im Sterben liegende Anna damals vor 38 Jahren nicht auf dem Hof dulden wollte.

Stallgeruch
„Enkelkind. Jetzt war sie plötzlich zum Enkelkind geworden, im Alter von siebenunddreißig Jahren. Durch einen Mann, der sich zum ersten Mal bei ihr gemeldet hatte, als sie zehn Jahre alt war. Er hatte einfach angerufen. Ein Mann, den sie nur ein einziges Mal getroffen hatte, vor mehreren Jahren, als sie in Trondheim einen Vortrag hielt. Er holte sie vor dem Hotel Gildevangen ab, in einem schmutzigen und hässlichen Volvo, der nach Stall stank. Er kam zu spät, hatte lange suchen müssen, fuhr nur selten in der Stadt. Der Sicherheitsgurt auf der Beifahrerseite war abgerissen, vermutlich Altersschwäche. ... Sie fuhren kreuz und quer durch die Stadt, hielten an einer Tankstelle und kauften sich zwei Becher Kaffee und zwei Heißwecken. Und gingen damit zurück ins Auto. Er stank dermaßen nach Stall, dass sie sich nicht mit ihm in ein Café setzen wollte, sie log und sagte, sie müsse das Flugzeug erreichen, obwohl sie erst später flog, sie wollte nur weg von diesem Auto und weg von dort, sie dachte an ihre Mutter, die adrette Cissi, wie war es nur möglich, dass Cissi und dieser wortkarge Mann sie gemacht hatten?“

Lügen und Geheimnisse
Es wird ein schwieriges Familientreffen. Schwelende Konflikte und lange unter den Teppich gekehrte Lügen und Geheimnisse gelangen nach dem Tode Annas eruptionsartig an die Oberfläche. Und schließlich geht es nicht mehr nur um die Zukunft der Familie und des verfallenden Hofes Neshov, sondern auch darum, die Vergangenheit auf ganz neue Art und Weise zu verstehen. Dass bei solch existenziellen Verwerfungen jedes der Familienmitglieder etwas aus der Spur gerät, verwundert nicht. So erliegt der sonderliche und gestrenge Junggeselle Margido den sexuellen Avancen einer seiner Kundinnen:

Ein feuchtes Pelztier
„‚Hier bist Du ja‘, flüsterte sie. Er begriff, was sie meinte, er hämmerte, er kam nicht vom Fleck, das hier würde er nicht überleben, zugleich konnte ihm das ganze Leben doch egal sein, ihre Haut fühlte sich an wie Seide, und doch waren mehrere Stoffschichten dazwischen, Unterhose und Anzughose. Er spreizte die Knie, es war nicht genug Platz, um sie noch zusammenzupressen, und er ließ sich ohnmächtig auf dem Sofa zurücksinken, blieb jetzt sein Herz stehen? Noch immer war er taub und die Musik verschwunden, sein Schritt füllte seinen ganzen Körper, ihr Kleid war aus Samt, es war, wie ein feuchtes Pelztier anzufassen, das hatte er noch nie getan, aber er glaubte, es müsse sich so anfühlen, ein nasser Otter vielleicht. Er schloss die Augen und wurde von einer tiefen Andacht erfüllt ...“

Pralles Leben
Schon in früheren Büchern der Autorin nahm die Erotik einen wichtigen Platz ein, doch ihr Talent zu äußerst plastischen Schilderungen der Dinge des Lebens zeigt sich in allen Bereichen – ob es sich nun um sexuelle Leidenschaft, die unschönen Details eines jugendlichen Selbstmords oder das Umfallen eines Trockenklos handelt. Dadurch strotzen diese Romane geradezu vor Sinnlichkeit und prallem Leben. Anne B. Ragde erzählt die Geschichte aus wechselnden Perspektiven – jedes Familienmitglied wird von ihr dabei gleichermaßen auf psychologisch sehr einfühlsame Weise porträtiert. Nach zwei Bänden Familiendrama ist dann zwar alles anders als zuvor – doch die Probleme scheinen nachzuwachsen, so dass man sich wohl auf eine Fortsetzung freuen darf. Und das ist gut so. Die Geschichten vom Hof Neshov machen nämlich süchtig.
Ulrike Künnecke
Literaturtest
Berlin, Juni 2008

GENRE