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SPECIAL zu Beate Rothmaier

Was heißt schon "normal"?

Interview mit Beate Rothmaier zu ihrem neuen Roman "Atmen, bis die Flut kommt"

Frau Rothmaier, was war für Sie der Ausgangspunkt für diesen Roman? Bücher oder Filme mit dem Thema Behinderung haben in letzter Zeit sehr viel Erfolg. Ist die Behinderung Hauptthema des Buchs?

Beate Rothmaier: Ausgangspunkt für den Roman war die Erfahrung, dass der Mensch ein Schicksal hat. Dass es Lebensumstände gibt, die unabänderlich sind, und so nur diese Person, dieses Individuum treffen – was auch immer das im Einzelnen sein mag. Für Konrad ist es die Tatsache, dass er völlig unvorbereitet Vater einer behinderten Tochter wird. Wo endet die Gestaltbarkeit des Lebens? Und wie geht ein Mensch, noch dazu ein junger, dem das Leben offen steht, der alles für möglich hält, damit um, das hat mich interessiert.

Kann man sagen, dass dieses Ihr persönlichstes Buch ist, gibt es autobiographische Bezüge?

B.R.: Es gibt den autobiographischen Bezug insofern, als eins meiner Kinder mit einer geistigen Behinderung geboren wurde, und ich mich selbst unvermittelt genau mit diesen Fragen konfrontiert sah. Was heißt es, ein Schicksal zu haben? Inwiefern ist es unentrinnbar? Wie kann es akzeptiert werden? Muss es akzeptiert werden? Wo endet Selbstbestimmtheit und welcher Schicksalsbegriff beginnt zu wirken? Im Grunde bündelt sich in diesem Buch etwas, das die beiden vorangegangen Romane bereits durchzogen hat: das Geworfensein. Caspar, die Hauptfigur in meinem ersten, gleichnamigen Roman, wird in diese enge bäuerliche Welt geworfen, Mika, die Protagonistin von Fischvogel in diese für sie unerträgliche Familie. Nur ist es in Atmen, bis die Flut kommt am stärksten gestaltet. Es ging mir jedoch nicht darum, mein persönliches Schicksal zu erzählen, sondern eine Einsicht literarisch zu formen.

Ist dieses Buch auch in kämpferischer Absicht geschrieben, um auf Missstände aufmerksam zu machen oder für eine benachteiligte Gruppe einzutreten?

B.R.: Natürlich habe ich mich im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre sehr mit dem Thema des Behindertseins und Behindertwerdens befasst und festgestellt, dass es ein Konstrukt ist, dass es etwas ist, das nur vom Standpunkt der Normalität aus stattfindet. Erst, wenn ich mich einer Norm zurechne, kann ich die Abweichung als solche sehen und beschreiben. Wechsle ich den Standpunkt, wird die Abweichung zur Normalität, zum Alltag. Das erfährt Konrad, als er beginnt, sich mit Lio einzurichten. Für die beiden ist die Behinderung nichts Besonderes. Erst im Zusammenprall mit der Außenwelt erfahren sie ihr Anderssein immer wieder. Das sind natürlich die Spezialisten Ärzte, Behördenvertreter, Heimleiter, Therapeuten, Helfer, aber auch die kurzzeitige Geliebte Mary, seine Freunde und immer wieder die Blicke unbeteiligter Passanten. Nur Josefine, die Frau, mit der für Konrad eine neue Beziehung möglich scheint, geht ganz selbstverständlich mit Lio um, für sie ist die Behinderung kein Thema, und das ist für Konrad mit ein Grund, dass er sie liebt. Weil er und seine Tochter bei ihr die sein können, die sie sind. Dem Buch untersteht keine agitatorische Absicht, Literatur kann die gesellschaftlichen Umstände zeigen und sollte dies möglichst spannend und mit den geeigneten sprachlichen und ästhetischen Mitteln tun. Sie kann nur etwas in Gang setzen über den Identifikationsprozess mit einer der Figuren. Das ist aber etwas, was in der Leserin oder im Leser passiert und von mir nicht kontrolliert werden kann. Zum Glück. Ich mache nur ein Angebot. Das ist mein Buch. Ein Angebot, die Welt für ein paar Stunden aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Die Hauptfigur ist ein alleinerziehender Vater. Warum der Vater und keine weibliche Hauptfigur?

B.R.: Paule, die Mutter, leistet sich mit ihrem Weggehen einen Ausbruch, den sich sonst eher die Väter leisten. Konrad, der bei seiner Großmutter aufgewachsen ist, ist der Fürsorglichere der beiden. Er verkörpert einen anderen Vatertyp, wie ich ihn oft bei den jetzt Dreißigjährigen sehe, und der mir sehr gefällt. Es hat mich interessiert, eine Männerperspektive einzunehmen, aus der Sicht des Vaters, noch dazu eines Künstlers, auf das Kind zu schauen. Mich hat auch die Kollision von Elternschaft und künstlerischen Produktionsbedingungen interessiert. Wie schwer die beiden miteinander zu vereinen sind. Das wollte ich an einem männlichen Künstler zeigen, und weil sein Leben mit Lio auch was Komisches hat und der Comic neben dem Film die einzige visuelle Kunst ist, die sich erzählerischer Mittel bedient, hat er sich angeboten. Dann waren Verschiebungen möglich vom Comic in den literarischen Text und umgekehrt. Das hat viel Spaß gemacht: den Imaginationsprozessen nachzugehen, sie zwischen dem literarischen Text und der zeichnerischen Bildhaftigkeit in Konrads Kopf kurzzuschließen.

Wie ist der harte Schritt von Paule zu verstehen, das Baby und den Mann einfach zu verlassen, ist sie herzlos?

B.R.: Auch das Thema der verweigerten Mutterschaft durchzieht mein Schreiben an vielen Stellen (Medea, Caspar etc.) und beschäftigt mich sehr. Paule realisiert schneller als Konrad, was es mit Lio auf sich hat, und beschließt, dem Schicksal die Stirn zu bieten, indem sie es schlicht nicht akzeptiert. Für mich ist sie nicht herzlos, sondern radikal und auf eine Art, die manche unweiblich finden mögen, sehr konsequent. Andererseits ist sie getrieben von ihrem eigenen Leistungs- und Perfektionsanspruch und merkt, dass sie dem dadurch, dass sie ein behindertes Kind geboren hat, nicht gerecht wird. Sie ignoriert ihr Schicksal, um ihr Selbstbild zu retten.

Das behinderte Mädchen, Lio, wird ja im Roman einmal bezeichnet als „der Schneekönigin vom Schlitten gefallen“, also als unergründliches, in sich ruhendes Wesen. Im Roman wird ihr Verhalten auch nie erklärt, sie ist einfach.

B.R.: Ja, Lio ist der zentrale Punkt in Konrads Leben und auch im Buch. Ich wollte sie einfach nur zeigen, und nicht erklären, deuten oder psychologisieren. Das wäre mir vermessen vorgekommen, denn vor ihrer Besonderheit endet auch das, was man "Einfühlung" nennen kann. Letztlich bleibt sie ein Rätsel, auch für Konrad, der aber schließlich dahin gelangt, sie so zu akzeptieren und zu lieben, wie sie ist.

© Randomhouse.de, 3. Mai 2013