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Belinda Bauer »Was tot ist«

Belinda Bauer im Interview zum Thriller »Was tot ist«

„Ich hasse es, wenn meine Figuren als ‚skurril‘ bezeichnet werden“

Belinda Bauer über Erfolg, Autismus, Besuche im Sektionssaal und ihren neuen Thriller „Was tot ist“

Belinda Bauer
© Bildschön / Vance Duxbury
Im Zentrum Ihres neuen Romans „Was tot ist“ steht ein ungewöhnlicher junger Mann: Patrick Fort. Er leidet unter dem Asperger-Syndrom, einer Form des Autismus, die von Kindheit an seine Beziehung zu den Eltern stark belastet und verhindert, dass er soziale Kontakte pflegen kann. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Hauptfigur mit Asperger-Syndrom zu wählen?

Ich wollte, dass sich die zwei Hauptfiguren des Romans, Patrick und der Komapatient Sam, in ihrer Isolation widerspiegeln. Sam, der gerade aus dem Koma erwacht, ist einsam, weil er sich nicht verständigen kann, und Patrick ist einsam, weil das Asperger-Syndrom seine Fähigkeit zur Kommunikation beeinträchtigt, also müssen sich beide letztlich allein der Bedrohung stellen. Das Asperger-Syndrom erlaubte es mir außerdem, Patrick die Besessenheit zu verleihen, die die Handlung vorantreibt. Kein anderer hätte bemerkt, was Patrick auffällt, oder wäre so besessen davon gewesen, herauszufinden, was dahintersteckt.


Sie erzählen Ihre Romane stets aus wechselnder Perspektive und nehmen die Sicht unterschiedlichster Charaktere ein. Worin besteht für Sie der Reiz, beim Erzählen immer wieder in andere Rollen zu schlüpfen

Alles! Die Figuren geben vor, wie die Geschichte erzählt wird, bis hin zur kleinsten Wendung des Handlungsverlaufs. Deshalb ist es entscheidend, dass sich meine Figuren glaubwürdig in die Geschichte fügen, die ich erzählen will. Um eine Persönlichkeit mit all ihren Eigenschaften zu entwickeln, genügt für mich schon der winzigste Auslöser. Ich glaube, dass Leser es sehr schnell bemerken, wenn sich eine Person nicht so verhält wie sie sollte, daher gestalte ich meine Figuren ständig um und entwickle sie weiter, um sicher zu gehen, dass sie absolut glaubwürdig sind. Ich hasse es, wenn meine Figuren als „skurril“ bezeichnet werden. Sie sind nicht skurril, sie sind einzigartig – so wie wirkliche Menschen.


Wie gelingt es Ihnen, sich in Menschen hineinzuversetzen, deren Wirklichkeitserfahrung sich grundlegend von der fast aller anderen unterscheidet? Hier denke ich bei „Was tot ist“ neben Patrick vor allem an Samuel Galen, der einen schweren Autounfall knapp überlebt hat und allmählich aus dem Koma erwacht. Aus seiner Sicht erfährt man von einem Verbrechen, das er als Patient auf der neurologischen Intensivstation zufällig beobachtet.

Durch Recherche, Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft. Man muss die Gesetze der Welt verstehen, in der die Personen leben, und sich dann vor Augen führen, wie sie sich innerhalb dieser Gesetze verhalten würden. Was Samuel Galen angeht, beschäftigte ich mich intensiv mit dem Koma und merkte sehr schnell, dass meine Vorstellung davon haargenau den Hollywoodklischees entsprach. Also musste ich beim Schreiben einen anderen Zugang zu Sam entwickeln und trotzdem der Geschichte treu bleiben, die ich erzählen wollte. Wie immer erwies sich das, was zunächst problematisch zu sein schien, als gewaltiger Vorteil. Sams Welt durch einen unverbrauchten Blick wahrzunehmen, bereicherte das Buch enorm. Ich verschmelze beim Schreiben wirklich mit jeder meiner Figuren. Wenn mir das nicht gelingt, ist es ein Zeichen dafür, dass ich diese Figur noch nicht richtig erfasst habe. Es lohnt sich auch bei Nebenfiguren, sich ganz in sie hineinzuversetzen. Alle wirklichen Menschen haben ein komplettes Leben, warum also sollte ich das meiner Nebenfiguren beschneiden? Für mich leben alle Romanfiguren weiter, auch wenn meine Geschichte längst zu Ende erzählt ist. Wir begleiten sie nur für eine kurze Wegstrecke.


Patrick wurde mit acht Jahren Zeuge, wie sein Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Seither ist er davon besessen herauszufinden, was im Moment des Todes mit einem Lebewesen geschieht. Als Schüler untersucht er tote Tiere, später meldet er sich an der Universität von Cardiff zum Anatomiestudium an. Warum wird seine akribische Suche nach dem, was Tod wirklich sei, zur treibenden Kraft der Ermittlungen?

Patrick sieht, wie sein Vater getötet wird, und sein Forschen nach der Ursache von Tod ist seine Art, damit zurechtzukommen. Es ist ganz natürlich, dass ein Kind jemanden, den es liebt, wieder zum Leben erwecken möchte, aber Patricks Veranlagung zu zwanghaftem Verhalten führt dazu, dass er über diesen Wunsch nie hinauswächst. Sein Bedürfnis zu begreifen, wie und warum etwas Lebendes stirbt, entspricht dem eines Detektivs herauszufinden, wie ein Mordopfer zu Tode kam. Und so wird Patrick unbeabsichtigt zu einem Detektiv.

Belinda Bauer
© Bildschön / Vance Duxbury
Sie schildern bis ins kleinste Detail, wie Studenten in einem Anatomiekurs Leichen sezieren und bei der Obduktion versuchen, die Todesursache zu ermitteln. Haben Sie selbst an Sektionen teilgenommen?

Direkt teilgenommen nicht, aber ich habe mich etwas eingehender mit Anatomie beschäftigt und bei Leichenöffnungen zugesehen, um sicher sein zu können, dass im Buch alles stimmt. Ich habe genau wie Patrick einige Zeit im Sektionssaal der Universität von Cardiff zugebracht, damit ich über die Vorgänge dort richtig schreiben konnte. Die Vorstellungskraft kann einen zwar sehr weit bringen, aber wenn man etwas tatsächlich sieht und riecht, entdeckt man jedes Mal viele winzige Details, die man sich nie hätte ausdenken können. Beispielsweise fiel mir im Sektionssaal auf, dass alle diese ziemlich groben Alltagsgegenstände wie Löffel und Sägen benutzten. Man stellt sich eine Sektion wie einen chirurgischen Eingriff vor, aber zum großen Teil handelt es sich bloß um ein Zerhacken und Ausgraben. Übrigens wird der Leichnam dadurch nicht schöner und die beteiligten Studenten sind noch sehr jung.


Bevor Sie mit Ihren Thrillern für Furore sorgten, wurden Sie als Drehbuchautorin mit dem renommierten Bafta Award for Young British Screenwriters ausgezeichnet. Welche besondere Herausforderung stellt im Vergleich zum Drehbuchschreiben ein Roman für Sie dar?

Für ein Buch brauche ich VIEL länger! Bei einem Drehbuch macht man gewissermaßen in Kurzschrift etwas sichtbar, und Drehbuchschreiben ist für einen Romanschriftsteller deshalb eine großartige Übung, weil man angehalten ist, alles Überflüssige zu streichen. Jedes Wort in einem Drehbuch erzeugt Kosten bei der Filmproduktion, also muss man sich sehr kurz fassen. Weil ich prägnante Texte mag, war das eine gute Lehre.


Warum haben Sie sich als Romanautorin fürs Thrillergenre entschieden?

Nicht ich traf die Entscheidung – die Thriller entschieden sich für mich! Ich schreibe einfach nur Geschichten, die mich selbst interessieren, anregen und unterhalten. Sobald das auf sie zutrifft, entpuppen sie sich offenbar als Thriller.


Eine zentrale Rolle spielen in Ihren Geschichten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. In Ihren ersten drei Romanen ist Stephen Lamb eine Schlüsselfigur – zu Beginn ist er zwölf, im dritten Buch 17 Jahre. Patrick Fort aus „Was tot ist“ ist 18 Jahre alt, und ihr jüngster Roman, „The Facts of Life and Death“, der soeben in Großbritannien erschienen ist, dreht sich um die 10-jährige Ruby Trick. Was macht die Kindheit und das Alter an der Schwelle zum Erwachsenwerden so interessant für Sie?

Da Kinder und Teenager viele Situationen zum ersten Mal erleben, nehmen sie sie anders wahr als Erwachsene. Darüber hinaus sind sie machtlos, was für eine Hauptfigur immer eine interessante Erfahrung ist. Außerdem glaube ich, dass Kinder erstaunlich robust sind – was vielleicht daran liegt, dass sie die Folgen dessen, was sie gerade durchmachen, noch nicht abschätzen können. Das in einen Krimi aufzunehmen, finde ich interessant. Nicht zuletzt steckt in uns allen ein Leben lang das Kind, das wir einmal waren. Ob wir es zugeben oder nicht: Das, was wir als Kinder erfahren haben, beeinflusst tagtäglich unser Verhalten, deshalb glaube ich, dass jeder die Ängste und das Glück der Kindheit nachempfinden kann.


Ihre Romane sind zumeist in kleinen Ortschaften angesiedelt, in einem Umfeld, wo jeder jeden kennt. Warum haben Sie sich für diese Schauplätze entschieden, und welches besondere Spannungsfeld entsteht, wenn inmitten von Heimeligkeit plötzlich ein bizarres Verbrechen geschieht?

Sie haben Ihre eigene Frage bereits beantwortet! Das Allerschlimmste ist es, wenn etwas Furchtbares in der Nachbarschaft geschieht. Was könnte schrecklicher sein, als dort Ängsten ausgesetzt zu sein, wo man sich am sichersten fühlen sollte.


Ihr Thrillerdebüt „Blacklands“ (auf Deutsch: „Das Grab im Moor“) erschien 2010 und wurde sofort als bester Spannungsroman des Jahres mit dem „Gold Dagger“ ausgezeichnet. Seither haben Sie jedes Jahr ein weiteres Buch veröffentlicht, neben „Das Grab im Moor“ liegen auf Deutsch drei weitere Titel von Ihnen vor: „Der Beschützer“, „Ihr liebt sie nicht“ und „Was tot ist“. Wie hat sich Ihr Leben durch den Erfolg Ihrer Romane verändert?

Jetzt kann ich es mir leisten, die Heizung aufzudrehen. Als ich „Das Grab im Moor“ schrieb, hatte ich so wenig Geld, dass ich mir den Hund auf den Schoß setzte, damit wir uns gegenseitig wärmen konnten. Abgesehen davon, hat sich wenig in meinem Leben verändert. Ich habe dieselben Freunde und beschäftige mich mit denselben Dingen. Mein Auto ist schon 20 Jahre alt, und ich fahre immer noch das Rad, das ich mir gekauft habe, als ich bei meinen Eltern auszog. Ich mag keine Veränderungen und keine Urlaube. Aber ich war schon immer sehr gern allein in meinem Zimmer, habe mir Geschichten ausgedacht und jetzt – dank des Erfolgs von „Das Grab im Moor“ – werde ich dafür bezahlt. Und je mehr Geschichten ich erzähle, desto mehr neue fallen mir ein, also hoffe ich, dass es so bis an mein Lebensende weitergehen wird.

© Manhattan Verlag, Interview: Elke Kreil