Rezension zu ‘Das geniale Gedächtnis’
Von:
Walter Weiss
16.02.2016
(1) Ich vermisse eine an den Anfang zu stellende gründliche Definition dessen,
was sich die Verfasser unter ‘Denken’ und ‘Verstand’ vorstellen.
Das ist ja schließlich das Handwerkszeug, dessen sie sich im ganzen Buch
bedienen. Man hätte also, um überhaupt einen so nahe am Verständnis angesiedelten
Text zu verstehen, eine Vorab-Beschäftigung mit diesen Begriffen
erwarten können.
Zumal eine solche Vorab-Beschäftigung wahrscheinlich eine Fülle von dem
Material, das die Verfasser ausbreiten, weniger mit dem Gebiet des Gedächtnisses
zu tun gehabt hätte als mit Denken und Verstehen, also den
Tätigkeiten, die VOR der Bildung von Gedächtnisinhalten stehen.
Dabei ist natürlich zu berücksichtigen: Eine umfassende Theorie, wie es um
das Denken und den Verstand steht, existiert bisher nicht. Hirnforscher tun
sich insofern mit Recht schwer, weil sie - trotz vieler Wörter - bisher immer
nur allerwinzigste Bereiche des Gehirns meinen verstehen zu können. Und
Philosophen versagen bisher offenbar auch: wenn sie überhaupt der Mühe
wert halten, eine entsprechende Theorie zu entwickeln, nehmen sie häufig
als logische Basis undiskutierbare Annahmen wie Religion, Sprache oder gar
angebliche Essentialien jeder Art.
Es fehlt also eine - natürlich allein naturwissenschaftliche - Theorie über das,
was man mit dem Inhalt und den Ursprüngen von Denken und Verstand
meinen könnte.
In solchen Fällen wird in den Naturwissenschaften eine Arbeitshypothese aufzustellen
sein, die anschließend nach Möglichkeit mit Inhalt versehen werden
muß, um ihre Brauchbarkeit - oder Unhaltbarkeit - darzulegen oder sogar zu
beweisen.
In Ermangelung einer solchen erkennbaren Arbeitshypothese habe ich vor
Jahren eine konkrete Hypothese dieser Art aufgestellt und in meinem Text
‘Exzerpt’ definiert. Ich halte sie nach wie vor für zweckmäßig und brauchbar.
Sie würde auch zum Buch ‘Das geniale Gedächtnis’ passen - allerdings eine
ganze Reihe von dort gewonnenen Erkenntnissen relativieren.
(2) Zu einigen Einzelheiten möchte ich bemerken:
(2.1) Wenn die Verfasser meinen, die Konstruktion dessen, was sie unter
‘Gedächtnis’ verstehen, nicht mit irgendwelchen anderen Gebilden vergleichen
zu können: Wie wäre es mit der einfachen Überlegung, dass
es ein wirklich treffendes Vergleichsbild gar nicht gibt, gar nicht geben
kann, eben weil keins existiert und wegen der übergroßen Kompliziertheit
auch gar nicht existieren kann?
(2.2) Das Konstrukt (um nicht zu sagen Schlagwort) eines ‘kollektiven Gedächtnisses’
geht meiner Meinung nach fehl. Ich habe den Eindruck,
die Verfasser vermieden allzu offensichtlich die Erwähnung der WIKIPEDIA.
(2.3) Alzheimer und Demenz erklären die Verfasser allzu einseitig mit dem
Verlust des Gedächtnises (wie ja überhaupt die Tendenz zu beobachten
ist, alles und jedes mit Gedächtnis in Verbindung zu bringen) -
dabei sind die Ursachen dieser Krankheiten doch erkennbar logisch
früher anzusetzen, nämlich mit Defekten an der Fähigkeit, zu denken,
also der Zerstörung der Hirnareale, die den Verstand darstellen.
(2.4) Obwohl an einigen Stellen - einigermaßen am Rande - die Evolution
vorkommt, vermisse ich eine umfassende Beschäftigung der Verfasser
mit den Fragen, wann überhaupt die Fähigkeit, Erinnerung zu bilden,
in der Vergangenheit entstanden ist und ob seit diesem Zeitpunkt
evolutionstechnisch überhaupt die für eine wirkliche Evolution
von der Wissenschaft geforderten Komponenten einer genetischen
Festlegung erfüllt worden sind. Denn ich gehe davon aus, dass
die Verfasser die für sie ganz entscheidende Rolle des Gedächtnisses
als genetisch angelegt betrachten.
Sollte ich den Text missverstanden haben, sollten die Verfasser also
der Meinung sein, diese entscheidende Rolle des Gedächtnisses sei
NICHT genetisch angelegt, müßten sie allerdings doch sehr genau
darlegen, auf welche Weise denn dann jeder Mensch diese Rolle des
Gedächtnisses erst während seines Lebens gelernt haben soll.