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Carsten Jensen und seine Romane "Wir Ertrunkenen" und "Rasmussens letzte Reise"

Der Maler Carl Rasmussen

Gibt man bei Google »Carl Rasmussen« ein, erscheint als erster Eintrag die Seite eines dänischen Werkzeugherstellers. Erst auf der zweiten Seite findet sich ein Hinweis auf den dänischen Marinemaler Carl Rasmussen (1841-1893), der mit zweiundfünfzig Jahren bei der Rückkehr von einer Grönlandreise unter mysteriösen Umständen ertrank. Und Kindlers Lexikon der Malerei führt zwar die als Skagen-Maler so berühmt gewordenen Zeitgenossen wie Peter Severin Krøyer und andere auf, den Namen Carl Rasmussen sucht man indes vergebens. Obwohl er zu Lebzeiten durchaus ein anerkannter und in Dänemark berühmter Künstler war, ist Rasmussen – abgesehen von zahlreichen Bildern im Seefahrts-Museum von Marstal und einigen wenigen Bildern im Kopenhagener Statens Museum for Kunst – heute weitgehend in Vergessenheit geraten.

Carsten Jensen stieß bei seinen Recherchen zu Wir Ertrunkenen immer wieder auf Rasmussen und hat ihn in ein zwei Nebenszenen auch im Roman auftreten lassen; Rasmussens Witwe ist sogar eine der zentralen Figuren. Bereits 2006 – bei Erscheinen von Wir Ertrunkenen – war Carsten Jensen entschlossen, die Lebensgeschichte des Malers zum Thema seines nächsten Romans zu machen. In Sidste rejse (»Rasmussens letzte Reise«) »verwandelt er ihn in eine Figur in einem dichterischen Arrangement, dessen Kern der Versuch ist, ein Rätsel der Vergangenheit zu lösen: War Rasmussens Tod ein Unfall oder Selbstmord – oder vielleicht sogar etwas mysteriöses Drittes?« (Erik Skyum-Nielsen, Information).

Carsten Jensen versammelt die entscheidenden Erlebnisse und Ereignisse, Demütigungen, Niederlagen und Triumphe in Carl Rasmussens Leben. Der Roman setzt 1893 mit der Abreise zur zweiten und letzten Reise des Malers nach Grönland ein. Rasmussen ist längst ein durchgesetzter, gutbezahlter Künstler, dessen entscheidender Durchbruch allerdings lange her ist. Einst wurde er nach seiner ersten Grönland-Reise als der erste dänische Maler gerühmt, der sich in die Eiswüste Grönlands gewagt und das Leben der Eskimos in seinen Bildern festgehalten hatte. Spätestens auf dieser Reise hatte sich Rasmussens Jugendcredo verfestigt, in seinem Leben nur »Schönes« malen zu wollen.

Auf seiner zweiten Grönland-Reise will er die Kreativität, die Aufbruchstimmung und die Energie dieser Zeit und dieser Jahre noch einmal heraufbeschwören und erleben. Doch schon während der Überfahrt denkt er nicht nur an die Erlebnisse und Bilder der ersten Reise, sondern erinnert sich in flashbacks auch an seine eher ärmliche Kindheit und Jugend auf Ærø und an sein unbefriedigtes Leben als Familienvater in Marstal. Rasmussen wuchs als Sohn eines Schneiders in Ærøskøbing auf, der seine zahlreichen Kinder in einem regelmäßigen Ritual jeden Sonntag verprügelte. Schon früh hatte er künstlerische Ambitionen und zeichnete, doch erst als Jugendlicher wird sein Talent durch Zufall entdeckt. Carl kommt nach Kopenhagen, studiert Kunst, lebt in bitterer Armut und ist gleichzeitig unglücklich verliebt. All dies erinnert erstaunlich an das Schicksal Hans Christian Andersens (der als Schustersohn aus Odense in die dänische Hauptstadt kam, um »sein Glück zu machen«), doch anders als Andersen erlebt Rasmussen Kunst und Reisen nicht als wirkliche Befreiung. Immer fühlt er sich von der bürgerlichen Öffentlichkeit kontrolliert und bevormundet. Es gelingt ihm, an der Kunstakademie angenommen – und damit quasi staatlich alimentiert – zu werden und nach seiner ersten Grönlandreise hat er endlich auch den ersehnten Erfolg. Doch als er aus Grönland nach Kopenhagen zurückkehrt, ist seine langjährige große Liebe Henrietta gestorben. Carl Rasmussen »begnügt« sich – aus Ritterlichkeit, Fürsorge oder falsch verstandenem Anstand – mit ihrer jüngeren Schwester – Anna Egidia – und zieht nach Marstal, um mit ihr eine Familie zu gründen.
Porträt von Anna Egidia Rasmussen (Marstal Søfartsmuseum)
1893, auf dem Weg nach Grönland und zurück – nach einer persönlich und künstlerisch enttäuschenden Reise, die in einem Skandal endet – resümiert Carl Rasmussen sein Leben bzw. seine Lebenskrise. Längst hat er gemerkt, dass er künstlerisch und menschlich auf der Stelle tritt, dass er weder in seiner Malerei noch in seiner mehr oder weniger zwanghaft geführten Ehe weiterkommt. »Er hatte sich von Hafen zu Hafen gemalt, von Landspitze zu Landspitze, von Eisberg zu Eisberg, von Siedlung zu Siedlung, von Kajak zu Kajak. Und das Ergebnis: lauter Routine. Motive und Palette kannte er nachgerade auswendig, die Arbeit ging ihm rasch von der Hand. Aber in seinem Inneren wuchs das Chaos.« Die Farben der modernen Maler wie Paul Gauguin, der sich zu dieser Zeit in Kopenhagen aufhält, faszinieren und erschrecken ihn, er sieht das Neue und ist doch nicht in der Lage, sich weiterzuentwickeln. Rasmussen ist verzweifelt und denkt immer öfter an die Mysterien der Eskimos, mit denen er in Kontakt kam – am Ende bleibt es offen, wie er tatsächlich zu Tode kommt: Trat er bewusst über die Reling, war es Zufall oder wurde er angezogen von dem grönländischen Mythos über eine Wiedergeburt als Wasserwesen?

Carsten Jensen erzählt die Lebensgeschichte eines letztlich tief verunsicherten Künstlers, der seine eigene Mittelmäßigkeit ahnte. Rasmussens letzte Reise ist ein Künstlerroman, der nicht linear erzählt wird, sondern kompositorisch permanent zwischen Erzählgegenwart und -vergangenheit wechselt, ohne dass das Buch dadurch hektisch oder unruhig wird. Im Gegenteil, Carsten Jensen schreibt in großen, ruhigen Bögen mit einer sehr bilderreichen, farbigen Sprache, in der ihm vor allem bei seinen Schilderungen der Landschaft und Natur Grönlands und des Eismeers und des Milieus der Kinder- und Jugendjahre großartige Passagen gelingen. Immer wieder werden Beschreibungen einzelner Gemälde Rasmussens in die Romanhandlung eingefügt, außerdem erfährt der Leser viel über Lebensweise, Mythen und Religion der Eskimos.

Ulrich Sonnenberg