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Zusatzmaterial zu Catherina Rusts Biographie »Das Mädchen vom Amazonas«

Die Geschichte der Aparai-Warana

Einst war ganz Amerika von Indianern besiedelt. Schätzungen zufolge lebten vor Kolumbus 30 bis 75 Millionen Menschen auf dem amerikanischen Kontinent. Über 2000 Sprachen wurden gesprochen und der gesamte Kontinent war von Handelsnetzen überzogen. Dabei entwickelten die Ureinwohner von Nord- über Mittel- bis nach Südamerika die unterschiedlichsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und passten sich jeweils den Bedingungen ihrer neuen Umwelt an. Die meisten lebten als nomadische Wildbeuter, Fischer, Jäger und Sammler und später auch zunehmend als sesshafte Ackerbauern. In einigen Gebieten entwickelten sich sogar urbane Kulturen mit Städten von mehreren tausend Einwohnern. Die indigenen Völker von Südamerika bis weit in den Norden des Kontinents begannen um circa 7000 vor Christus Pflanzen wie Mais, Kürbis und Kartoffeln zu züchten, was die Landschaft in einem viel stärkerem Ausmaß veränderte als bislang angenommen.
Die Aparai-Wajana im Norden Amazoniens gehören der Sprache nach zu den (Nord-)Kariben, die einst zu den verbreitetsten Völkern der neuen Welt zählten. Die Eroberung Amerikas durch die Spanier und später die Portugiesen bereitete ihrem Wirken ein grausames Ende; die verheerenden Folgen der Kolonisierung des südamerikanischen Kontinents wirken bis heute bei seinen Ureinwohnern nach.



Während der Botaniker Jean Baptiste Leblond 1788 die Bevölkerung der Aparai-Wajana noch auf 4000 schätzte, kam der Geograf und Südamerikaforscher Henri Coudreau Ende des 19. Jahrhunderts nur noch auf 1500 Bewohner. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl noch weiter reduziert. Der Kartograf und Anthropologe Claudius Henricus De Goeje bezifferte die Population der Aparai-Wajana auf maximal 1000; 600 davon lebten in Brasilien, 300 in Surinam und 100 in Guayana.

Bild: Die halbsesshaften Aparai-Wajana legen viele Kilometer auf den gefährlichen Gewässern zurück

Als Manfred Rauschert (der Vater von Catherina Rust) im Rahmen seiner Forschungen auch die Siedlungsgebiete der Aparai- Wajana untersuchte, war die Zahl um weitere 300 gesunken. Seit den 1980er Jahren ist wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Aktuellen Schätzungen zufolge leben heute rund 1400 bis 1600 Aparai-Wajana über drei Ländergrenzen hinweg verstreut in kleineren Gruppierungen. Im Grenzgebiet von Brasilien (am östlichen Rio Paru im Bundesstaat Para), in Surinam (am Rio Tapanahoni und am Rio Paloemeu) sowie zunehmend in Französisch-Guayana (am oberen Rio Maroni und an dessen Zuflüssen Rio Tampok und Rio Marouini).

Die Aparai-Wajana sind ein halbsesshaftes Volk, entsprechend häufig sind sie unterwegs, um freundschaftliche Kontakte zu ihren Nachbarn und Verwandten zu pflegen oder um Handel unter ihresgleichen zu betreiben, was eine verlässliche Volkszählung nahezu unmöglich macht, da sie manchmal wochen-, wenn nicht monatelang unterwegs sind. Obwohl die Aparai-Wajana gemeinhin als ein Volk betrachtet werden, handelt es sich ursprünglich um einen Zusammenschluss von zwei unterschiedlichen Stämmen, die wiederum aus mehreren kleineren Untergruppierungen hervor gegangen sind. Zu ersten Mischehen zwischen Aparai und Wajana kam es vermutlich erst im 18. Jahrhundert.


Heute leben die Aparai zum Großteil auf brasilianischem Gebiet, während sich die Wajana überwiegend in Französisch-Guayana und in Surinam niedergelassen haben. In Brasilien verteilen sich die Aparai und Wajana auf etwa 16 Dörfer, die sich hauptsächlich am oberen und mittleren Lauf des Rio Paru innerhalb zweier Indianerschutzgebiete befinden – dem »Parque Indigena do Tumucumaque« und der »Terra Indigena Rio Paru D'Este«. In diesen Schutzgebieten leben neben zahlreichen anderen ethnischen Gruppen auch die Tirio und die Wajapi.

Bild: Mit der Christianisierung geraten auch die alten Riten immer mehr in Vergessenheit

Die Aparai-Wajana betrachten sich inzwischen zwar überwiegend als »gemischt«, dennoch wird Wert auf die jeweils eigene Abstammung gelegt. Ist die Mutter eines Kindes eine Wajana und der Vater ein Aparai, wird der Sprössling eher als erste Sprache Aparai lernen, Wajana als zweite. Neben der eigenen Sprache beherrschen die Aparai-Wajana meist mindestens zwei bis drei weitere indigene und manchmal auch europäische Sprachen. In vielen Fällen Tirio, Wajapi und Portugiesisch, aber auch Französisch und Niederländisch sowie Sprachen und Dialekte aus der jeweiligen näheren Umgebung. Diese Art des Multilingualismus ist für die Völker Amazoniens nicht außergewöhnlich. Obwohl die Wajana heute die Mehrheit stellen – »echte« Aparai dürfte es inzwischen weit weniger als 200 geben (andere Schätzungen sprechen von maximal 400) –, verbreitet sich zumindest innerhalb Brasiliens die Sprache der Aparai auch und gerade unter anderen Ethnien. Diese Kuriosität dürfte auf die Alphabetisierung durch evangelikale Missionare aus Nordamerika zurückzuführen sein, die zwischen 1968 und 1992 die christliche Bibel in Aparai übersetzt haben – eine Sprache, die wie viele andere Amazoniens bis dahin keinerlei Schriftform kannte. Die Mythen und Traditionen der Aparai und der Wajana wurden über Jahrhunderte, wenn nicht über Jahrtausende, ausschließlich durch mündliche Überlieferung von Generation zu Generation weiter gegeben.


Vereinzelte Begegnungen der Aparai-Wajana mit »Fremden« gab es durch Entdeckungsreisende vermutlich bereits im 18. Jahrhundert. Es sollten jedoch noch fast hundert Jahre vergehen, bis der Marinearzt Dr. Jules Crevaux im Jahre 1877 erste gezielte Forschungen vornahm. Claudius Henricus de Goeje, der 1903 in das Gebiet der Wajana und Tirio reiste, war einer der ersten Wissenschaftler, die aus rein völkerkundlichem Interesse in das Amazonasgebiet kamen.

Bild: Die Aparai-Wajana sind bekannt für ihr Kunsthandwerk

Schon diese ersten Begegnungen mit Menschen aus der Zivilisation führten dazu, dass sich große Bevölkerungsgruppen der Aparai und Wajana für längere Zeit tief in den Urwald zurückzogen. Der Kontakt mit den Amazonasreisenden war vielfach der Auslöser für verheerende Epidemien, welche die Bevölkerung stark dezimierten.

Gegen Ende der 1930er Jahre gelangte Otto Schulz-Kampfhenkel als Leiter der Deutschen Amazonas-Jary-Expedition in den brasilianischen Urwald. Die NS-Regierung unterstützte den Forscher, angeblich auch, um die Möglichkeiten eines deutschen Brückenkopfes in Südamerika zu erkunden. Schulz-Kampfhenkels Expeditionsbericht »Rätsel der Urwaldhölle« sowie der gleichnamige Ufa-Film wurden Kassenschlager. Auf seiner Reise kam der Forscher auch in Kontakt mit Aparai, er lebte sogar eine Zeitlang unter ihnen in einem kleinen Dorf.

Erst in den 1950er Jahren begann die Zeit der systematischen ethnographischen Erforschung der Amazonasvölker. Ab 1951 trat Manfred Rauschert eine Reihe von Expeditionen an, seit 1954 unter anderem auch im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Hessen. Diese Reisen bildeten den Ausgangspunkt für seine Forschungstätigkeit, die sich über insgesamt beinahe fünf Jahrzehnte erstreckte und das Leben und die Kultur des südamerikanischen Tieflandvolks bis in die heutige Zeit auf einzigartige Weise dokumentiert. Sein Nachlass, die »Sammlung Rauschert«, wird derzeit wissenschaftlich aufgearbeitet und umfasst annähernd 3000 ethnographische Objekte sowie tausende bislang unveröffentlichter Fotografien, Fotoserien und Filme.

Dennoch haben die Aparai-Wajana im Gegensatz etwa zu den Yanomami bis heute noch nicht den Weg ins Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit gefunden. In Fachkreisen sind sie hingegen bekannt für ihr herausragendes Kunsthandwerk. Heutzutage fertigen sie ihre traditionellen Kunstgegenstände allerdings zum Großteil für den Export, wobei die mythische Bedeutung mehr und mehr in Vergessenheit gerät, da die alten Riten infolge der christlichen Missionierung nur noch selten praktiziert werden. Flecht- und Töpferwaren, Perlen- und Federschmuck, geschnitzte Pfeile und Paddel aber, auch mit mythischen Tierfiguren bemalte Gegenstände jeglicher Art haben ihren Weg in die Touristenläden und Galerien der Welt gefunden, während die eigene Kultur und damit die eigene Identität zunehmend in Vergessenheit gerät.

Heute leben in ganz Amazonien – dem größten Regenwaldgebiet der Erde, das sich über ein Fläche von sieben Millionen Quadratkilometern erstreckt – noch schätzungsweise 300 Indianerstämme, insgesamt etwa eine halbe Million Menschen. Davon allein in Brasilien laut Angaben von Survival International an die 350 000 Indianer in über 200 verschiedenen Völkern. Viele davon sind durch die fortschreitende Umweltzerstörung, die massive Abholzung der Wälder und den fortgesetzten Landraub in ihrer Existenz bedroht. Der Raubbau an der Natur, gepaart mit der Verdrängung der Ureinwohner aus ihrem angestammten Gebiet, lässt sich kaum noch aufhalten, auch deshalb nicht, weil die verheerenden Konsequenzen oftmals viel zu spät an die Öffentlichkeit gelangen. Der Rassismus, der den Ureinwohnern in ihrer Heimat entgegenschlägt, ist ebenfalls unverändert groß. Nach brasilianischem Gesetz gelten Indianer immer noch als unmündig – was nichts anderes bedeutet, als dass ihnen die Selbstbestimmung verwehrt bleibt. Gerade deshalb ist die Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen von unschätzbarem Wert. Sie setzen sich unermüdlich für den Schutz der letzten Urvölker auf unserem Planeten ein.