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Christian Seidel: Gender Key, Ariston Verlag

Christian Seidel im Interview zu »Genderkey«

»Gleichstellung kann allen Ernstes nicht sein, wenn sich ein Geschlecht auf die Bühne des anderen zu stellen versucht«

Christian Seidel
© Florian Seidel
Wie kam es dazu, dass Sie sich mit der Genderproblematik auseinandersetzen?
Christian Seidel: Ich habe die krasse Schieflage im Mann-Frau-Verhältnis bereits vor vielen Jahren erkannt, als ich noch beruflich als Medienmanager viel mit Frauen zu tun hatte. Als ich im Selbstversuch mehrere Jahre als Frau zu leben versuchte, spürte ich am eigenen Leib, wie unterschiedlich die Universen der Frauen und der Männer sind. Etwas dafür zu tun, dass Frauen und Männer als Menschen befreiter leben können, ist mir aufgrund dieser Erfahrung und den daraus resultierenden Erkenntnissen ein tiefes Bedürfnis.

Sie behaupten, dass die Gleichstellung von Mann und Frau ein Trugschluss ist. Können Sie das belegen?
Christian Seidel: Gleichstellungsgesetze alleine reichen nicht aus. Das wäre wie in einer Diktatur, wo der Diktator behauptet, das Volk lebe in Freiheit, und das Volk einfach glaubt, dass das, was sie da haben, wirklich Freiheit ist. Es braucht Praxis. Solange beide Geschlechter nicht wirklich frei von Rollenklischees leben, und nach wie vor die Männer mit ihrem Verhalten unsere Welt prägen, ist Gleichstellung nichts als eine Fata Morgana. Vielleicht wähnen sich einige, auch manche Frauen, in diesem falschen Glauben. Aber das ist eine Illusion, sie gründet auf einem medialen Trugbild von einer falschen Augenhöhe der Geschlechter. Nachdem mein Buch »Die Frau in mir« auf dem Markt war, konnte ich davon in über 700 Zuschriften nachlesen.

Ihre Genderanalyse basiert auch auf aktuellen Erkenntnissen der Gehirnforschung, Neurobiologie, Soziologie und Epigenetik. Können Sie hierzu ein paar Fakten nennen.
Christian Seidel: Der Merseburger Genderforscher Heinz Jürgen Voss hält es für nachgewiesen, dass die Kategorisierung Mann/Frau zu eng ist. Dennoch gehen die empirischen Untersuchungen fast alle von der Voraussetzung aus, dass es nur diese beiden Geschlechter gibt. Bereits hier sollte aber das Fragezeichen gestellt werden.
Die US-Forscherin Yunko Arai hat nachgewiesen, dass menschliche Verhaltensweisen nicht nur genetisch, sondern auch alleine durch antrainiertes Verhalten transgenerational übertragen werden können. Das stellt in Frage, dass geschlechtsspezifisches Verhalten genetisch festgelegt ist.
Die Steinzeit-Genderforscherin Linda Owen hat nachgewiesen, dass die Menschen in der Steinzeit nicht gemäß den uns bekannten Geschlechterklischees gelebt haben. Die märchenhaften Klischees, die wir mit dieser Zeit verankern, sind geradezu grotesk falsch: Die Männer waren keine ‚Jäger und Sammler‘. Auch die Frauen haben gejagt, und noch viel mehr gesammelt. Sie haben u.a. die Waffen produziert, mit denen die Männer – und auch sie selbst auf die Jagd gingen.
Aufgrund aktueller Forschungen der Psychotraumatologie halte ich es für wahrscheinlich, dass der jahrtausendalte Zwang für Menschen, entsprechend geschlechtlichen Rollenverhalten gelebt zu haben, und zwar unter Lebensgefahr wie bei den Frauen, eine kollektive Traumatisierung erzeugt haben könnte. Kollektive Traumatisierungen und deren transgenerationale Übertragbarkeit ist in vielen Fällen nachgewiesen worden.
Das sind nur ein paar ganz aktuelle Beispiele, durch die ich das bestehende Verständnis des geschlechtlichen Verhaltens fundamental in Frage stelle.

Warum ist das Bedürfnis der Frauen nach einer Anleitung, wie sie sich behaupten können, ohne sich in eine männliche Rolle drängen zu lassen, so groß?
Christian Seidel: Frauen spüren, wenn sie nicht mehr sie selbst sind. Das ist der Fall, wenn sie sich, z. B. nur aus beruflichen Gründen und Karrierezwang, dazu gezwungen sehen, männliche Verhaltensweisen anzunehmen und ihre eigenen zu unterdrücken. Nach Einführung der Frauenquote berichten Gleichstellungsbeauftragte, dass das Bewusstsein für die Gleichberechtigung der Frau seither paradoxerweise stark zurückgegangen ist. Es ist härter geworden. Frauenleistungen werden jetzt mit Männermaßstäben gemessen. Die Gleichstellung ist in Wirklichkeit eine Ungleichstellung: Frau passt sich Mann an, nicht umgekehrt. Aus den daraus folgenden Problemen entsteht ein riesiger Beratungsbedarf.

Stecken die Frauen generationsübergreifend in der Geschlechterrollensackgasse oder ist bei der jüngeren Generation bereits ein anderes Verständnis an ihre Rolle erkennbar?
Christian Seidel: Mein Eindruck ist, dass sich die Geschlechterklischees bei jüngeren Menschen noch viel mehr festgesetzt haben, als bei älteren. Sie reflektieren weniger, sie neigen dazu, alles palletti zu finden. Sie sind noch weniger aufgeklärt, als ältere Generationen.

Sie plädieren, dass es in Unternehmen Pflicht wird, dass Männer Seminare zur Gleichstellung besuchen. Was ist die Ursache für diese Forderung und was versprechen Sie sich davon?
Christian Seidel: Es ist meine ganz krasse Erfahrung, dass Männer glauben, dass bei ihnen alles in Ordnung ist. Auch denken viele, sie seien bereits ziemlich aufgeschlossen in puncto Gleichstellung. Das Problem ist aber ein vielschichtiges und subtiles. Die Geschlechterrollen und ihre Klischees arbeiten sehr verdeckt und automatisiert. Das männliche Kernklischee ist, dass die Männerrolle sich aus der Verdrängung weiblicher Verhaltensweisen speist. Was das bedeutet, kann vielen Männern nur mit Hilfe einer Genderberatung klar gemacht werden. Sonst denken sie weiter, es sei alles bei ihnen in Ordnung.

Männer wie Frauen verhalten sich, so Ihre These, aufgrund jahrtausenderlanger Prägung in festgefahrener Klischeeweise zueinander. Welche Klischees sind das?
Christian Seidel: Ich habe nach langer Recherche zehn Kernklischees ausgemacht. Zu den bedeutendsten zählt das Gottklischee, in dem die Überordnung der Männer verankert ist. Es rührt aus der Zeit der Gründung der monotheistischen Religionen, als festgelegt wurde, Gott sei ein Mann und nicht etwa eine Frau. Das Steinzeitklischee differenziert die Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Sehr interessant ist die Wirkungsweise des Paar-Klischees. Über Jahrtausende haben Frauen und Männer ihr Zusammenleben nur als Paare praktiziert, bei dem die Frauen bei existentieller Bedrohung extrem untergeordnet waren. Und für Männer war es selbstverständlich, dass sie die Tonangeber sind. Wie sollen Menschen mit dieser Prägung ohne Beratung und ohne längeren Prozess wirkliche Augenhöhe praktizieren können? Da kommt dem Frauenquoten-Gesetzgeber erhebliche Verantwortung zu, mehr zu tun!

Welchen Rat geben Sie Frauen und welchen Männer? Oder ist nur ein Rat für beide vonnöten?
Christian Seidel: Um einen Rat zu geben, braucht es einen Ratsuchenden. Männer fragen bei diesem Thema nicht um Rat. Solange Männer nicht wirklich einsehen, z.B. mit Hilfe einer Therapie, wie hoffnungslos verheddert sie sich innerhalb des schmalen Verhaltensrahmens ihrer Männerrolle bewegen, ist es sinnlos, ihnen Rat zu geben. Sie nehmen ihn sowieso nicht an. Deswegen kommt den Frauen eine so große Verantwortung zu. Sie sind da viel freier. Sie fragen, und sind nicht so beratungsresistent wie Männer.

Was macht für Sie ein Leben auf Augenhöhe aus? Was also ist der Genderkey, der Schlüssel zur wirklichen Gleichstellung?
Christian Seidel: Wirkliche Augenhöhe zwischen Frauen und Männern entsteht nur, wenn beide ihre Isolierung erkennen und gleichermaßen auf sich zugehen. Das bedeutet die beiderseitige, konstruktive Erarbeitung einer neuen gemeinsamen Ebene. Gleichstellung kann allen Ernstes nicht sein, wenn sich ein Geschlecht auf die Bühne des anderen zu stellen versucht. Es muss bei den Männern Bewegung rein kommen. Sonst geht das nicht.

Was soll Ihr Buch bewirken und welche Reaktionen erhoffen Sie sich?
Christian Seidel: Ich will vor allen Dingen Bewusstsein für die Aktualität der massiven Wirkungsweise der Geschlechterklischees im Leben von jedem Einzelnen von uns schaffen. Es würde mich sehr freuen, wenn daraus eine Debatte und ein Domino-Effekt entstehen würden, bei dem jeder Einzelne in sich selbst hinguckt und kritisch untersucht, inwieweit die Geschlechterrolle sein eigenes Leben einschränkt.