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Daniel Depp - Stadt der Verlierer

SPECIAL zu Daniel Depp »Nächte in Babylon«

Ein Brief an meine deutschen Leser

Gern würde ich diese Gelegenheit nutzen, um einmal festzustellen, dass ich in meinem eigenen kreativen Universum zu Hause bin, in einer goldenen Sphäre jenseits des Wirkens gewöhnlicher Sterblicher, durch nichts beeinflusst als durch den inneren Kosmos meiner grenzenlosen Begabung. Das würde ich gern, aber es wäre eine faustdicke Lüge. In Wahrheit drücken mich genauso viele literarische Schulden wie alle anderen kleinen Schreiberlinge. Wie jeder Roman speist sich auch meiner aus zahllosen Quellen. Wenn ich nur diejenigen aufführen wollte, an die ich mich erinnern kann, bräuchte ich ein ganzes Buch dafür.

Ja, ich weiß, das sagen alle Schriftsteller, und es wird uns gern als falsche Bescheidenheit ausgelegt. Und auch wenn das Vortäuschen von Bescheidenheit eine der nützlicheren Übungen ist, die man in Hollywood lernen kann: Mir ist es ernst. Müsste ich allerdings die Schuld für Stadt der Verlierer auf irgendjemanden abwälzen, wären es Ingmar Bergman und Raymond Chandler.

Diesen Satz habe ich schon in einigen Interviews gesagt, aber er wird mir meistens unter dem Vorwand herausgestrichen, dass er zu intellektuell klingt. Offenbar ist nichts dagegen einzuwenden, dass man Chandler erwähnt, aber Bergman wirkt aus irgendeinem Grund abschreckend und hält die Leute davon ab, meine Bücher zu kaufen. Das heißt, ich gehe hier mit meinen Äußerungen ein großes Risiko ein.

Stadt der Verlierer soll unterhalten. Es soll Spaß machen. Man könnte mir kein größeres Kompliment machen als das, dass man beim Lesen das Abendessen vergessen oder seine Bushaltestelle verpasst hat. Höhere literarische Ambitionen verbinde ich damit keine. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht einmal ganz sicher, ob überhaupt jemand höhere literarische Ambitionen haben sollte.

Punktum. Da ich mir, abgesehen von den Folterqualen einer Schulstunde, keinen Menschen vorstellen kann, der einen ganzen Roman liest, ohne dass es ihm Spaß macht, ist für mich der Unterhaltungsfaktor eine Grundfunktion des Romans.

Nur weil ein Roman unterhaltsam ist, bedeutet das noch lange nicht, dass er keine Ideen enthalten darf. Ich glaube, es war Louis B. Mayer, der einmal (in Bezug auf Filme) gesagt hat, dass er, wenn es ihm darum ginge, eine Botschaft loszuwerden, ein Telegramm schicken würde. Viele denken noch heute so, und das spiegelt sich natürlich in der Kultur wider. Meine Einstellung ist eine andere: Wenn man die eine oder andere Idee einschmuggeln kann, umso besser. Davon stirbt man nicht, und irgendwo gibt es vielleicht jemanden, der sich ein bisschen darüber amüsiert. Man muss es sich so vorstellen, als würde man einen Pudding mit Rosinen kochen. Vorausgesetzt, man rührt nicht allzu viele Rosinen hinein, können die Rosinenhasser sie herauspicken und haben immer noch den Pudding. Für die Rosinenfans dagegen ist jeder Fund eine willkommene Überraschung.

Raymond Chandler habe ich mit elf oder zwölf Jahren kennengelernt. Wir hatten für den Sommer in Bowling Green, Kentucky, ein Haus gemietet. Weiß Gott, warum. Schon damals war ich eine griesgrämige kleine Leseratte und galt in meiner Familie als ein vieräugiges Kuriosum, weil ich lieber Bücher las und mir Filme ansah, als an der Sonne zu sein und mich mit echten Menschen abzugeben. (Manche Dinge ändern sich nie.) Und plötzlich fand ich mich ohne meine Bücher wieder, übrigens das letzte Mal, dass mir so etwas passiert ist. Seitdem nehme ich auf Reisen immer eine ganze Bibliothek mit. Mir blieb nichts anderes übrig, als das spärliche Angebot unserer Vermieter zu durchforsten. Warum ich mir ausgerechnet die schmalen Buchclubausgaben von Dashiell Hammett und Raymond Chandler heraussuchte, kann ich nicht mehr sagen. Wahrscheinlich hatte ich ihre Namen irgendwo gelesen. Ich nahm sie aus dem Regal und verkroch mich damit vor meiner Familie, dieser Bande trauriger, vor Gesundheit nur so strotzender Büchermuffel, unter den Bäumen hinter dem Haus. Ich schlug das erste Buch auf, Der große Schlaf, und mein Leben sollte nie wieder dasselbe sein.

Obwohl Hammett in mancher Hinsicht der bessere Schriftsteller ist, hatte Chandler die größere Wirkung auf mich. Hammetts Sam Spade und der Continental Op machen sich nicht viele Gedanken über die Moral dessen, was sie tun, und oft sind sie sogar genauso verrucht wie die Gauner, mit denen sie sich herumschlagen müssen. Hammetts Welt ist zynisch, aber simpel. Man macht seine Arbeit, man tut, was man tun muss. Lange Moraldebatten sind dabei nur hinderlich und können tödliche Folgen haben.

Für Chandler, diesen humanistisch hoch gebildeten Mann, war die Zivilisation eindeutig zu weit mehr fähig. Mit seinem Helden Philip Marlowe erschuf Chandler einen modernen Artus-Ritter, für den jeder Fall eine Suche nach dem Heiligen Gral ist, eine Suche nach dem Funken Gutes im Menschen. Bei fast jedem Schritt, den er macht, muss Marlowe Verrat und Gewalt einstecken, aber er erträgt sie wie ein Ehrenmann und wehrt sich dagegen, sich selbst korrumpieren zu lassen. Und obwohl ihm klar ist, dass er seinen Gral vielleicht nie finden wird, lässt er sich, wie jeder wahre Ritter der Tafelrunde, den Glauben nicht nehmen, dass es ihn gibt.
Und falls Sie denken, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe und mehr in Chandler hineinlese, als tatsächlich in ihm steckt, schlage ich vor, dass Sie sich seinen Essay »Die simple Kunst des Mordens« vornehmen, in dem er genau solche Fragen behandelt. Der Essay ist für das Verständnis des amerikanischen Detektivromans entscheidend, denn er stellt die Leitsätze auf, an denen sich seither fast alle amerikanischen Autoren von Detektivromanen orientiert haben. Das alles wusste ich natürlich damals noch nicht, auch wenn ich ein noch so kluges Kind war. Aber ich hatte den Verdacht, dass in diesen Romanen, jenseits der Schießereien und Wasserstoffblondinen, etwas Wichtiges geschah. Für mich ergab es irgendwie einen Sinn, und wenn ich mich für einen Weg entscheiden musste, und heute weiß ich, dass ich genau danach suchte, dann war Philip Marlowes Weg der bessere. Nicht der leichteste, aber der, der mir richtig vorkam.

Man hat mir schon oft gesagt, dass ich einen eigentümlichen Verstand habe, aber für mich ist es von Raymond Chandler zu Ingmar Bergman nur ein kleiner Sprung. Bergman wird oft als existentialistischer Realist angesehen, obwohl er in Wahrheit ein extrem stilisierter Moralist war. Bergmans arme Geschöpfe leiden, weil sie fest daran glauben, dass es den Gral gibt, aber nicht mehr genau wissen, welcher Weg zu ihm führen könnte. Sie leiden nicht, weil sie ihren Glauben verloren haben, sondern weil sie daran verzweifeln, jemals beweisen zu können, dass er einen Sinn hat. Bergmans trostlose Filme haben mich begeistert. Sie waren sowohl dunkel als auch klar, und wie Woody Allen träumte auch ich davon, eines Tages Filme im Stile Bergmans zu drehen. Ich zumindest hatte das Glück, es gar nicht erst zu versuchen. So sehr ich Bergmans Filme liebte (und immer noch liebe), waren es doch nicht seine Filme, die am stärksten auf mich wirkten, sondern seine Memoiren, Laterna Magica, und seine Kommentare über die Gemeinsamkeiten von Film und Illusion.

Bergman beschreibt die Ähnlichkeiten zwischen Film und Zaubertrick. Ein Filmemacher, sagt Bergman, sei nichts anderes als ein Zauberkünstler, ein Illusionist. Ein Film, der mit 24 Bildern in der Sekunde über die Leinwand flimmert, besteht in Wirklichkeit hauptsächlich aus Dunkelheit, und es ist nur ein visueller Trick, der es so aussehen lässt, als ob sich die Leinwand bewegt. Davon ausgehend ist jeder Film eine Lüge, ein besserer Kartentrick, und Filmemacher werden danach beurteilt, wie gut sie lügen können. (Noch ein kurzer Sprung und noch eine Verbindung: Pablo Picasso hat gesagt: »«Die Kunst ist eine Lüge, die die Wahrheit sagt.«)

Bergman hat meinen Blick auf Filme verändert, und dieser Blick hat mich später nach Hollywood begleitet, als ich selbst anfing, Drehbücher zu schreiben. Wenn Filme Lügen sind, und das war mir von Anfang an klar, ist Hollywood nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine riesige Lügenfabrikationsmaschine. (Hier kommen wir zu David Spandau und dem Roman Stadt der Verlierer, in dem ich zu erklären versuche, wie all dies miteinander in Verbindung steht. Haben Sie noch etwas Geduld mit mir.)

Stellen Sie sich einen begnadeten Zauberer vor, einen genialen Illusionskünstler, der irgendwann anfängt, an seine eigenen Illusionen zu glauben. Er vergisst die Rädchen und Flaschenzüge, die verborgenen Sprungfedern und die praktische Falltür und ist irgendwann selbst überzeugt, dass das Kaninchen, das er aus dem Hut gezogen hat, nicht dort versteckt war, sondern von ihm ins Leben geholt und erschaffen wurde. Damit wäre er ein höheres Wesen, eine Art Gott. Er verliert den Respekt vor der schwierigen Aufgabe, die komplizierten Mechanismen zusammenzubauen, ohne die die Tricks niemals funktionieren würden. Er hat seine Gerätschaften vergessen, seine Helfer, das wackelige Gerüst, an dem das ganze Unterfangen hängt. Die Illusionen bleiben natürlich, die Tricks gehen weiter. Aber er weiß nicht mehr, wie sie funktionieren. Er hat so gut gezaubert, dass er selbst daran glaubt. Ladies and Gentlemen, willkommen in Hollywood ...

Man wirft mir vor Hollywood schlecht zu machen, doch das ist nicht meine Absicht. Ich liebe Hollywood. Mich stören auch die riesigen, raffinierten Lügengebilde nicht, die dort entstehen. Denn wenn man Picasso glauben darf, hat jede dieser Lügen die Fähigkeit, uns eine tiefe Wahrheit zu vermitteln. Was mich allerdings stört ist das riesige Heer raffinierter Idioten, die den Laden schmeißen und nicht wahrhaben wollen, dass alles nur eine Lüge ist und dass eine Lüge nur dann einen Wert haben kann, wenn sie uns etwas Wahres und Wichtiges über uns und unser Leben verrät.

Tut mir leid, aber Geld verdienen allein reicht nicht. Ich glaube an den Film. Aber ich glaube auch, dass es eine Verschwendung ist, einen Film ohne ein höheres Ziel und nur um des Geldverdienens wegen zu drehen. Schlimmer noch, es ist ein Verbrechen, eine Art Psychoterrorismus. Ob es einem gefällt oder nicht, Filme prägen unser Leben. Sie schleichen sich in unser Bewusstsein ein, sie sind zu unseren Mythen geworden. Vulkan wurde von Brad Pitt ersetzt. Angelina ist unsere Aphrodite. Bewahre uns, o mächtiger Zeus, vor einer Religion, deren Grundlage der allmächtige Dollar ist! Es steht viel zu viel auf dem Spiel.

Mehr, denke ich, als die meisten von uns erkennen. Wir leben heute in einer Welt, in der ganze Regierungen »hollywoodifziert« sind, in der Politiker nur noch Schauspieler sind, die vorgefertigte Texte nachplappern, und in der uns die Behörden, wenn sie uns »informieren «, die gleichen Illusionen vorgaukeln, von denen Bergman spricht.
Und trotzdem werde ich immer wieder gefragt, warum ich Stadt der Verlierer geschrieben habe ...

Ich habe den Roman geschrieben, um zu unterhalten. Aber auch als kleinen Rippenstoß, um die Menschen zu ermutigen, den Vorhang zur Seite zu ziehen und sich mit den eigenen Augen ein Bild davon zu machen, wie der Trick funktioniert. Ich möchte, dass die Menschen den Mut haben, sich daran zu erinnern, dass es, verdammt noch mal, bloß eine Illusion ist.

Aber es ist okay, dass es eine Illusion ist. Wenn man das akzeptiert hat, kann man anfangen, nach der Wahrheit zu suchen, die sich vielleicht dahinter verbirgt ...

Als ich mit Stadt der Verlierer anfing, wollte ich der Figur des David Spandau all das mitgeben. Spandau sollte ein Detektiv im klassischen Chandler-Stil sein, ein Mann, der seinen Glauben noch nicht verloren hat, ein Mann, der noch immer nach dem Gral sucht. Er arbeitet in Hollywood, der Stadt der Illusionen, und der größte Teil seiner Arbeit besteht darin, diese Illusionen aufzudecken und nach Möglichkeit den Menschen zu helfen, die durch deren Missbrauch geschädigt wurden.

Verrate mir deine Träume, flüstert die Hollywoood-Sirene, und ich weiß, wie ich dich am besten betrügen kann. Stadt der Verlierer ist ein Roman der Opfer, der Menschen, die auf der Strecke bleiben, wenn sie ihren Träumen nachjagen. Manche Kritiker werden sagen, das sei zynisch. Das ist es nicht. Die Menschen in Stadt der Verlierer leiden nicht, weil sie Träume haben, sondern weil sie entweder dem falschen Traum nachjagen oder dem richtigen Traum auf die falsche Art und Weise.

Die einzigen wirklich glücklichen Figuren in Stadt der Verlierer sind ein mächtiger Ganove namens Locatelli und ein riesiger Schläger namens Squiers. Natürlich dürfte ich Ihnen das alles eigentlich gar nicht erzählen. Es ist normalerweise ein Riesenfehler, wenn sich ein Autor auf die Hinterbeine stellt und einen Vortrag über sein Werk hält. Ein Roman ist nur die eine Hälfte eines Gesprächs, bei dem auch der Leser noch mitzureden hat. Es kann sein, dass der Roman, den Sie lesen, nicht der Roman ist, den ich zu schreiben geglaubt habe. Und auch das ist vermutlich okay.

Wenn andererseits ein Schriftsteller seine Arbeit gut genug gemacht hat, steht alles, was er zu sagen hat, bereits auf dem Papier, und es gibt keinen Grund, warum er sich dazu noch weiter äußern sollte. Also hält er am besten die Klappe und stört nicht weiter beim Lesen.

Und genau das werde ich jetzt tun.