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SPECIAL zu David Brooks »Das soziale Tier«

David Brooks im Interview

SPIEGEL: Mr. Brooks, Sie fordern in Ihren Texten einen »neuen Humanismus«. Was ist das?

Brooks: In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Forschung rund um die Welt mit der Frage befasst, wer wir sind, wie wir zu denen werden, die wir sind, wie wir also denken und funktionieren. Die Ergebnisse in den verschiedenen Feldern, von der Bewusstseinsforschung über die Neurologie bis hin zur Psychologie, deuten allesamt in eine Richtung: Viele unserer Entscheidungen spielen sich unter der Oberfläche ab, sie werden gesteuert vom Unterbewussten, von Emotionen und Erfahrungen, von unserer Umgebung, von Vorurteilen, von menschlichen Verbindungen. Wir bilden uns gern ein, Vernunftwesen zu sein, aber so edel und weise sind wir nicht.

Sie glauben, unsere Theorien von der Welt und von uns selbst seien zu rational und in Wahrheit falsch?

Ja, denn in politischen und wirtschaftlichen Theorien müsste die Kraft der Emotionen viel stärker berücksichtigt werden, die Tatsache eben, dass wir weniger durch reine Vernunft geprägt sind, als wir uns wünschen oder einbilden. Die Forschung zeigt, dass Emotion nicht getrennt oder abgespalten von der Vernunft ist, dass es auch nicht Ich und Über-Ich gibt, sondern Emotionen bilden die Grundlage des Denkens und damit aller Entscheidungen.

Warum brauchen wir deshalb aber gleich einen neuen Humanismus?

Wir müssen besser verstehen, wer wir sind, und daraus die Konsequenzen ziehen. In meiner Karriere als Journalist habe ich eine Vielzahl politischer Fehlentscheidungen erlebt, die aus einem zu simplen Verständnis der menschlichen Natur resultierten.

Nämlich?

Nehmen Sie den Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre. Der Westen ging davon aus, dass alle Probleme gelöst würden, wenn er nur eine Menge Ökonomen entsenden und einen Privatisierungsplan entwickeln würde. Stattdessen haben sich die Menschen in Russland gegenseitig bestohlen, alles brach zusammen. Wir im Westen waren blind gegenüber den tieferen, unterbewussten Aspekten der russischen Gesellschaft: dem kompletten Mangel an sozialem Vertrauen.

Sie schreiben vom Menschen als »sozialem Tier«. Was bedeutet Ihre Theorie also für journalistisches oder politisches Handeln?

Der technokratische Blick auf die menschliche Natur und Gesellschaft muss zu einem Blick werden, der auch all das einbezieht, was nicht so leicht messbar und leider komplex ist, aber eben dennoch wahr. Wirtschaftswissenschaftler glauben an Daten und Tabellen, aber nur damit versteht man Lehman Brothers oder Griechenland nicht. Auch Politikwissenschaftler und Medien ignorieren Dinge wie Erfahrungen und Emotionen, weil sie glauben, dass man die Welt verändert, wenn man ihre Institutionen verändert. Dass es so nicht geht, hat sich ganz besonders im Irak gezeigt.

Wieso dort?

Unsere politische Führung dachte, sie könnte das Militär hineinschicken und eine neue Nation bauen. Ich habe einen Vertreter der Bush-Regierung gefragt: Kann es sein, dass ihr die Kultur dieses Landes nicht verstanden habt? Und er sagte: Ich glaube nicht an Kultur. Dass Amerikaner und Iraker einander nicht verstanden haben, ist ein wesentlicher Grund für die Langsamkeit des Fortschritts.

Woher kommt die falsche Gewichtung?

Sie scheint logisch zu sein, vernünftiger, messbarer. An Daten kann man sich festhalten, Daten sind männlich. Wir alle sind die Kinder einer Gedankenschule von Platon bis Descartes, die die Vernunft für gut und Emotionen für nicht vertrauenswürdig und instabil erklärte, die Vernunft darum zum Weg aus der Höhle hinaus ans Licht.

Wir pflegen in Wahrheit also kulturell bedingte Emotionen gegen die eigenen Emotionen?

(lacht) Ganz genau, wir sehen die Welt eindimensional, alles muss in Modelle gequetscht werden, und deswegen wollen auch die Sozialwissenschaftler unser Verhalten studieren wie Physiker. Ich will kein Romantiker sein und die Verdienste menschlicher Vernunft über Bord werfen, aber es gibt menschliche Talente, die zu wenig beachtet wurden.

Sie sprechen von »Metis«, nach der ersten Gattin des Zeus, die für Weisheit steht.

Ja, es geht dabei um unterbewusste Wahrnehmung, um die Fähigkeit, durch lange Erfahrung Strukturen in scheinbar unlösbar komplexen Situationen zu erkennen. Unser Gehirn verknüpft ja alles Neue, was unsere Sinne aufnehmen, mit vergangenen Erfahrungen, auch mit Vorurteilen. Wir nehmen ständig Tausende Dinge wahr, die wirkliche Leistung unseres Gehirns ist die Auswahl, die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem. Jede Situation erfordert ja in Wahrheit viele, viele Entscheidungen, und bei weitem nicht alle sind uns bewusst.

Sie rücken ab von den marktliberalen Ideen Ihrer republikanischen Freunde?

Ja, die moderne Forschung legt ein Bild der menschlichen Natur nahe, in dem die Verantwortung des Individuums gegenüber seiner Umwelt eine bedeutendere Rolle spielen muss.

Das ist für einen Konservativen in Amerika eine ungewöhnliche Weltsicht.

Weil wir das John-Wayne-Image der einsamen Cowboys pflegen und eine sehr individualistische Nation sein wollen. Aber das ist nur vordergründig so.

Ach ja?

Wir pflegen diese Mythologie, dass wir alle allein sind, aber in Wahrheit sind wir eine Nation, die schon immer gut darin war, neue Gemeinschaften und Netzwerke zu gründen. Amerikaner sind viel sozialer, als sie zugeben mögen.

Hat Ihr Ausflug in die Welt der Wissenschaft Ihre journalistische Arbeit verändert?

Absolut. Ich betrachte nun alles zunächst aus einem psychologischen Blickwinkel. Ich nehme als Erstes die emotionalen Reaktionen auf Ereignisse wahr und achte auf die Beziehungen zwischen Menschen. Und ich glaube, dass unsere Probleme nicht in Einzelteile zerlegt und damit einfach gelöst werden können, sondern dynamische, sich entwickelnde Systeme sind, in denen alle Details voneinander abhängen. Armut ist solch ein System, aber auch islamischer Extremismus.

Erschwert es die Arbeit eines Kolumnisten eigentlich, wenn er lernt, dass es keine einfachen Lösungen mehr gibt?

Ja, klar, man muss aufmerksamer sein und beachten, welche menschlichen Beziehungen einem Problem zugrunde liegen. Die USA lernen gerade in Afghanistan, dass es nicht reicht, die Bösen umzubringen, um den Krieg zu gewinnen. Stattdessen müssten Dörfer aufgebaut werden, um vertrauensvolle Beziehungen zu erschaffen.

Regierungen denken pragmatischer.

Nein, das tun sie ja eben nur auf den ersten Blick. In Teilen Amerikas bringt ein Viertel aller Kinder die Highschool nicht zu Ende, obwohl das ganz und gar irrational ist. Politiker erzählen den Kindern etwas von Karriere und Chancen, wir versuchen, das Problem unter Bergen von Geld zu begraben. Was sie in der Schule halten würde, das zeigen längst Studien, sind emotionale und soziale Verbindungen, entweder durch Lehrer oder durch Sport oder durch Schulbands.

Stattdessen werden die Budgets für Kunst oder Musikprogramme gestrichen.

Ja. Es gibt kaum etwas Wichtigeres für Erfolg als soziale Beziehungen. In einer Studie haben Wissenschaftler die Beziehung zwischen Müttern und ihren Kleinkindern untersucht. Sie konnten, als die Kinder 42 Monate alt waren, mit einer Wahrscheinlichkeit von 77 Prozent vorhersagen, welches der Kinder später die Highschool abschließen würde. Es waren jene aus stabilen Familien.

Mr. Brooks, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Klaus Brinkbäumer und Thomas Schulz; es erschien im SPIEGEL vom 6. Juni 2011.