Rob Coates kann sich wirklich glücklich schätzen: Er ist mit seiner großen Liebe Anna verheiratet und nach vielen gemeinsamen Jahren krönt der gemeinsame Sohn Jack endlich das große Glück der beiden. Bis zu dem Moment, an dem die kleine Familie eine unfassbare Diagnose erhält: Der kleine Jack leidet an einer unheilbaren Krebsart.
Während es Rob den Boden unter den Füßen wegzieht, versucht Anna stark zu bleiben – doch anstatt zusammenzuhalten, entfernen die beiden sich immer weiter voneinander. Bis Rob einen Entschluss fasst, der das Leben der Familie für immer verändern wird …
»Sehr eindrucksvoll und elegant geschrieben, emotional, aber dabei kein bißchen kitschig. Unbedingt empfehlenswert!« (Buchhandlung: Bücherstube Jahn)
»„Der Himmel gehört uns“ hat meine Erwartungen weit übertroffen.
Die Geschichte ist so gefühlvoll und authentisch geschrieben, dass man einfach ganz schnell mittendrin ist.« (Gloria P.)
Hole dir Luke Allnuts "Der Himmel gehört uns" und folge dem kleinen Jack und seinem Vater auf der letzten Reise auf der Welt.
Wie weit würdest du gehen, für Menschen, die du liebst?
Teil I
1
Sie las wie eine Besessene, bevor sie ging. Auf ihrem
Lieblingsstuhl mit der harten Lehne; im Bett, gegen einen Berg
von Kissen gestützt. Der Nachttisch war mit Büchern übersät,
die sich auch auf dem Boden stapelten. Sie bevorzugte
ausländische Krimis, und sie ackerte sie durch, ihre Lippen
sittsam verkniffen, ihre Miene steif, reglos.
Manchmal wachte ich nachts auf und sah, dass die Lampe
noch immer brannte: Anna, eine strenge, reglose Silhouette,
saß mit durchgedrücktem Rücken da, genau wie man es ihr
immer beigebracht hatte. Sie nahm nicht zur Kenntnis, dass
ich aufgewacht war, obwohl ich mich zu ihr umwandte, sondern
starrte nur in ihr Buch, blätterte die Seiten durch, als
würde sie für eine Prüfung büffeln.
Anfangs waren es nur die üblichen Verdächtigen aus
Skandinavien – Henning Mankell, Stieg Larsson –, aber
dann wandte sie sich anderen zu: deutschen Noir-Romanen
aus den Vierzigerjahren, einer Thai-Reihe, die im Phuket der
Sechzigerjahre spielte. Die Cover waren anfangs vertraut –
wiedererkennbare Schriftarten und Designs von größeren
Verlagen –, aber bald wurden sie exotischer, mit fremdartigen
Schrifttypen und anderen Einbänden.
Und dann, eines Tages, war sie weg. Ich weiß nicht, wo
die Bücher jetzt sind. Ich habe seitdem nach ihnen gesucht,
um zu sehen, ob sich ein paar von ihnen auf meine Regale
geschlichen haben, aber ich habe keine gefunden. Ich nehme
an, sie hat sie alle mitgenommen, in einen ihrer farblich
gekennzeichneten Müllsäcke verpackt.
Die Tage nach ihrem Weggang sind verschwommen. Eine
Erinnerung aus Betäubungsmitteln, zugezogenen Vorhängen
und purem Wodka. Eine beunruhigende Stille, wie die
Vögel, die vor einer Sonnenfinsternis verstummen. Ich erinnere
mich, dass ich im Wohnzimmer saß, auf einen Kristalltumbler
starrte und mich fragte, ob ein Finger Wodka waagerecht
oder senkrecht war.
Ein Luftzug wehte durchs Haus. Unter den Türen hindurch,
durch die Risse in den Wänden. Ich glaube, ich wusste,
woher er kam. Aber ich konnte nicht dorthin gehen.
Ich konnte nicht nach oben gehen. Denn es war nicht mehr
unser Haus. Diese Zimmer existierten nicht mehr, als hätten
Erwachsene mit Geheimnissen sie für tabu erklärt. Daher
saß ich einfach nur unten, in diesem alten, toten Haus,
während der kalte Wind meinen Nacken frösteln ließ. Sie
waren verschwunden, und die Stille breitete sich in jeden
Winkel aus.
Oh, ich bin sicher, sie würde sich freuen, mich jetzt zu sehen,
in dieser düsteren Nische in einem schmuddeligen kleinen
Pub verkrochen – nur ich, ein flimmernder Fernseher
und irgendein Typ, der so tut, als wäre er gehörlos, und Disney-
Schlüsselringe verkauft, die im Dunkeln leuchten. In
der Eingangstür des Pubs klafft ein Loch, als ob jemand versucht
hätte, sie einzutreten, und durch das flatternde, durchsichtige
Plastik kann ich ein paar Jugendliche sehen, die auf
dem Parkplatz herumhängen, rauchen und Kunststücke auf
einem alten BMX vorführen.
»Ich hab’s dir ja gesagt.« Sie würde es natürlich nicht laut
aussprechen – dafür hatte sie zu viel Klasse –, aber es wäre
da, auf ihrem Gesicht, eine fast unmerklich hochgezogene
Augenbraue, der Anflug eines Lächelns.
Anna fand immer, dass ich ein bisschen ungeschliffen
war, die Sozialbausiedlung nie wirklich abschütteln konnte.
Ich erinnere mich, was sie sagte, als ich ihr erzählte, dass
mein Dad seine Samstagnachmittage im Allgemeinen im
Wettbüro verbrachte. Höfliche Verwunderung, dieses selbstgefällige
leise Lächeln. Denn niemand in ihrer Familie ging je in ein Pub.
Nicht einmal an Weihnachten?, fragte ich einmal.
Nein, sagte sie. Sie tranken vielleicht nach dem Mittagessen
ein Glas Sherry, aber das war alles, mehr nicht. Stattdessen
gingen sie zum Glockenläuten.
Jetzt ist es dunkel, und ich kann mich nicht erinnern, wie
die Sonne untergegangen ist. Ein Wagen heult draußen auf,
und seine Vorderlichter gleiten um das Pub wie der Suchscheinwerfer
eines Gefängnisses. Ich gehe zurück an die Bar
und bestelle mir noch ein Pint. Köpfe wenden sich zu mir
um, aber ich nehme keinen Augenkontakt auf, meide die
starren Blicke, das unergründliche Nicken.
Ein stämmiger Fischer sitzt auf einem Barhocker, zur Tür
gewandt, als ob das Pub sein Publikum ist. Er erzählt einen
rassistischen Witz über eine Frau, die eine Affäre hat, und
das Zupfen eines vereinzelten Schamhaars, und ich erinnere
mich, ihn einmal nach der Schule gehört zu haben, in einer
Gasse in Ost-London, wo die Leute Pornozeitschriften und
leere Coladosen wegwarfen. Die Stammgäste lachen über
die Pointe, aber das Barmädchen schweigt und wendet sich
von ihnen ab. An der Wand hinter ihr hängen Seite-drei-Bilder
von halb nackten Frauen und gerahmte Zeitungen vom
Tag nach dem elften September.
»Vier Pfund zehn, Darling«, sagt das Barmädchen und
stellt mir das Bier hin. Meine Hände zittern, und ich suche
ungeschickt in meiner Brieftasche herum, verschütte mein
Kleingeld auf dem Tresen.
»Entschuldigung«, sage ich. »Kalte Hände.«
»Ich weiß«, erwidert sie, »es ist eisig da draußen. Ich mache
das schon.« Sie sammelt die Münzen vom Tresen ein,
und dann, als wäre ich ein gebrechlicher Rentner, zählt sie
den Rest des Geldes aus meiner Hand ab.
»So, bitte sehr. Vier Pfund zehn.«
»Danke«, sage ich, ein wenig beschämt, und sie lächelt.
Sie hat ein freundliches Gesicht, die Art, die man an Orten
wie diesem nicht oft sieht.
Als sie sich bückt, um den Geschirrspüler auszuräumen,
nehme ich einen langen Schluck Wodka aus meinem Flachmann.
Es ist leichter, als sich zu jedem Pint einen Kurzen zu
bestellen. Das verrät einen als Trinker, und dann behalten sie
einen im Auge.
Als ich zurück zu meinem Tisch gehe, bemerke ich eine
junge Frau, die am anderen Ende der Bar sitzt. Davor saß
sie bei einem der Männer, einem der Freunde des Fischers,
aber jetzt ist er gegangen, ist mit quietschenden Reifen in
einem aufgemotzten Kombi weggefahren. Sie sieht aus, als
ob sie sich für einen Ausgehabend in Schale geschmissen
hat, in einem kurzen Rock und einem knappen Glitzertop,
die Wimpern spitz und dunkel.
Ich beobachte das Barmädchen, vergewissere mich, dass
sie mich nicht sehen kann, dann nehme ich noch einen
Schluck Wodka und spüre dieses vertraute Kribbeln, dieses
traurige kleine Glücksgefühl. Ich sehe zu der Frau hinüber,
die an der Bar sitzt. Jetzt kippt sie Schnäpse, ruft dem Barmädchen
etwas zu, das, wie ich vermute, ihre Freundin ist.
Als sie lacht, fällt sie fast von ihrem Hocker, nur um im letzten
Moment wieder ins Gleichgewicht und zu Atem zu kommen.
Ich werde bald zu ihr hinübergehen. Nur noch ein paar
Drinks.
Ich klicke durch Facebook, blinzle, um das Display besser
sehen zu können. Mein Profil ist nichtssagend, ohne Fotos,
nur die Silhouette eines Mannes, und ich habe noch nie ein
»Like« oder einen Kommentar oder einen Geburtstagsgruß
an irgendjemanden gepostet, aber ich war jeden Tag dort,
habe gescrollt, beurteilt, gescrollt, beurteilt, schmuddelige
kleine Fenster in das Leben von Leuten, die ich nicht länger
kannte, mit ihren ganzen Sonnenauf- und Sonnenuntergängen,
ihren Radtouren durch die Highlands, der endlosen Flut
auf Instagram geposteter Pad Thais und Avocadotoasts, der
unergründlichen Selbstgefälligkeit ihrer Sushidinner.
Ich hole einmal tief Luft und nehme noch je einen Schluck
Bier und Wodka. Sie tun mir leid. All diese Tragödienjunkies
mit ihren Trikoloren und Regenbögen, die ihr Profilbild
ständig ändern, je nachdem, womit wir heute unser Mitgefühl
bekunden sollen – den Flüchtlingen, den jüngsten Opfern
eines Terroranschlags an irgendeinem gottverlassenen
Ort. Ihre ganzen Hashtags und herzlich empfundenen Posts
darüber, zu »geben«, weil sie in ihrem Auszeitjahr einmal
geholfen haben, eine Schule in Afrika zu bauen, und mit
ihrem perlweißen Mund die braune Hand eines Bettlers geküsst
haben.
Ich ändere meine Haltung am Tisch so, dass ich das Mädchen
an der Bar sehen kann. Sie hat sich noch einen Drink
bestellt, und sie lacht, gackert fast, während sie sich auf
ihrem Handy ein Video ansieht, darauf zeigt, die Aufmerksamkeit
des Barmädchens zu erregen versucht.
Ich wende mich wieder meinem Handy zu. Manchmal
zwinge ich mich, mir die Fotos der Kinder anderer Leute
anzusehen. Ich nehme an, es ist wie der Drang, an frisch
gebildetem Schorf zu kratzen, nicht lockerzulassen, bis ein
metallischer Blutstropfen hervorquillt. Die Magentritte von
Neuankömmlingen, Kinder mit Zahnlücken beim Schulanfang,
mit ihren Ranzen und zu großen Blazern; und dann
ihre Strandurlaube, mit ihren Sandburgen und Wassergräben
und Eistüten, die in den Sand gefallen sind. Große
Schuhe und kleine Schuhe, auf der Fußmatte aufgereiht.
Und dann die Mütter. Oh, diese Facebook-Mütter. Die Art,
wie sie redeten, als ob sie die Mutterschaft erfunden hätten,
die Gebärmutter, wie sie sich einredeten, sie seien anders
als ihre eigenen Mütter, weil sie Quinoa aßen und sich
die Haare zu Cornrow-Frisuren flochten und ein Pinterest-
Board mit Bastelideen für trotzige Kleinkinder führten.
Ich gehe zurück an die Bar und stelle mich neben die betrunkene
Frau. Jetzt, wo ich genügend Drinks intus habe, fühle
ich mich besser, und meine Hände haben aufgehört zu zittern.
Ich lächle, und sie starrt zu mir zurück, schwankt auf
ihrem Hocker und mustert mich von Kopf bis Fuß.
»Willst du einen Drink?«, frage ich fröhlich, als würden
wir uns bereits kennen.
In ihrem glasigen Blick flackert Verblüffung auf. Sie
zwingt sich, sich aufrecht hinzusetzen, sodass sie nicht mehr
zusammengesackt über dem Tresen hängt.
»Cola mit Rum«, sagt sie. Ihr Stolz ist zurückgekehrt, und
sie wendet sich von mir ab und klopft mit den Fingern auf
den Tresen.
Während ich die Drinks bestelle, tut sie, als wäre sie mit
ihrem Handy beschäftigt. Ich kann ihr Display sehen, und
sie klickt nur wahllos zwischen Apps und Nachrichten hin
und her.
»Ich bin übrigens Rob«, stelle ich mich vor.
»Charlie«, antwortet sie. »Aber alle nennen mich Charls.«
»Bist du von hier?«, frage ich.
»Camborne, geboren und aufgewachsen«, sagt sie, während
sie sich zu mir dreht. »Aber jetzt lebe ich hier oben bei
meiner Schwester.« Ihre Augen sind wie Eidechsenzungen,
huschen in meine Richtung, wenn sie glaubt, dass ich nicht
hinsehe.
»Du hast wahrscheinlich noch nie von Camborne gehört,
oder?«
»Bergbau, richtig?«
»Ja. Aber jetzt nicht mehr. Mein Dad hat bei South Crofty
gearbeitet, bis sie dichtgemacht haben«, erzählt sie, und mir
fällt auf, wie sehr ihr Akzent nach Cornwall klingt. Der sich
abschwächende Tonfall, das sanft gerollte R.
»Und du?«
»London.«
»London. Sehr schön.«
»Kennst du London?«
»War ein- oder zweimal dort.« Sie sieht wieder zum anderen
Ende der Bar, zieht einmal tief an ihrer Zigarette.
Sie ist jünger, als ich dachte, Mitte zwanzig, mit rotbraunen
Haaren und weichen, kindlichen Zügen. Sie hat irgendetwas
leicht Losgelöstes an sich, etwas, das ich nicht ganz
einordnen kann, das über das Trinken, über die verschmierte
Wimperntusche um ihre Augen hinausgeht. Sie scheint fehl
am Platz im »Schmuggler«, als ob sie sich von einer
Hochzeitsgesellschaft abgeseilt hätte und hier gelandet wäre.
»Dann machst du hier unten Urlaub?«
»So ähnlich.«
»Und, gefällt dir Tintagel?«, fragt sie.
»Ich bin erst heute angekommen. Morgen werde ich die
Burg besichtigen. Ich wohne in dem Hotel nebenan.«
»Zum ersten Mal hier?«
»Ja.«
Es ist eine Lüge, aber ich kann ihr nicht von dem einen
Mal erzählen, als wir zusammen hier waren. Wir drei, am
Ende eines nassen englischen Sommers, eingepackt gegen
den Wind, Regenjacken über Shorts. Ich erinnere mich, wie
Jack auf dem Gras neben dem Parkplatz umhertollte und
wie ängstlich Anna war – »Hand halten, Jack, Hand halten« –,
für den Fall, dass er zu nah an den Rand laufen sollte.
Ich erinnere mich, wie wir den steilen, gewundenen Pfad
hochstapften und das obere Ende der Klippen erreichten
und wie es dann, aus heiterem Himmel, einen Wetterumschwung
gab, eine fast biblische Atempause, als der Regen aufhörte,
die Wolken sich teilten und ein Regenbogen erschien.
Regenbogen, Regenbogen, rief Jack, während er von einem
Fuß auf den anderen hüpfte und die Blätter um ihn herumtänzelten
wie Feuergeister. Und dann schien es auf einmal,
als hätte irgendetwas ihn berührt oder irgendjemand ihm ins
Ohr geflüstert, und er verharrte völlig reglos und sah durch
die Lichtsäule, die die Wolken durchdrang, hoch zu dem
blauen Himmel und der verblassenden Farbpalette.
»Geht’s dir gut?«
»Was? Ja, alles bestens«, sage ich und nehme einen
Schluck von meinem Pint.
»Du warst ja auf einem völlig anderen Stern.«
»Oh, entschuldige.«
Sie trinkt die Hälfte ihrer Cola mit Rum, schüttelt das Eis
in ihrem Glas.
»Es ist ganz okay, Tintagel«, sagt sie zu niemand Bestimmtem.
»Ich arbeite im Dorf, in einem der Souvenirläden.
Meine Freundin arbeitet hier.« Sie zeigt auf das Barmädchen,
das mit dem freundlichen Gesicht.
»Es ist ein nettes Pub.«
»Es ist okay«, sagt sie. »Besser am Wochenende, und
dienstags gibt es Karaoke.«
»Singst du?«
Sie schnaubt leise. »Nur ein einziges Mal, nie wieder.«
»Schade, das würde ich gern sehen.« Ich lächle, halte
ihrem Blick stand.
Sie lacht und erwidert mein Lächeln, und dann wendet
sie den Blick verschämt ab.
»Das Gleiche noch mal?«, frage ich. »Ich nehme noch
eines.«
»Dann trinkst du nichts von dem da?« Sie streckt eine
Hand aus und klopft auf meine Jackentasche, tastet nach
meinem Flachmann.
Ich ärgere mich, dass sie mich gesehen hat, und während
ich noch überlege, was ich sagen soll, berührt sie sanft meinen
Arm.
»Du versteckst das nicht sehr gut, Kumpel.« Sie will auf
ihre Armbanduhr sehen, und dann, als ihr klar wird, dass sie
gar keine trägt, sieht sie stattdessen auf ihrem Handy nach
der Uhrzeit.
»Na dann. Einen Letzten«, sagt sie. Sie kichert vor sich
hin, während sie in ihrem engen Rock umständlich von ihrem
Hocker rutscht. Ich sehe ihr nach, als sie zu den Toiletten
geht – ein Trip, den sie sittsam angekündigt hat –, und
ich kann die Konturen ihrer Unterwäsche unter ihrem Rock
erkennen, den Abdruck des Barhockers auf ihren Schenkeln.
Sie riecht nach Parfüm, als sie wiederkommt, und sie hat
ihr Make-up aufgefrischt und ihre Haare nach hinten gebunden.
Wir bestellen uns ein paar Kurze, wir reden und trinken
und nehmen beide immer wieder einen Schluck aus meinem
Flachmann. Dann zeigt sie mir Hundevideos auf YouTube,
weil ihre Familie Ridgebacks züchtet, und dann Clips von
Leuten, die sich streiten, Leuten, die auf der Straße
zusammengeschlagen werden, auf Überwachungskameras, weil
einer ihrer Kumpel aus Camborne ein Kickboxer ist, aber
jetzt ist er im Gefängnis, Körperverletzung.
Dann sehe ich auf, und alles ist verschwommen, eine
springende CD, die Lichter sind an, und ich höre das laute
Heulen eines Staubsaugers. Ich frage mich, ob ich eingeschlafen
bin, weggetreten, aber Charlie ist noch immer dort neben mir,
und ich sehe, dass wir jetzt Red Bull mit Wodka
trinken. Ich sehe sie an, und sie lächelt mit nassen, betrunkenen
Augen, und dann beginnt sie wieder zu lachen und
zeigt auf ihre Freundin, das Barmädchen, das jetzt mit mürrischer
Miene den Staubsauger über den Teppich schiebt.
Und dann gehen wir, nach einer kurzen kleinen Farce, in
der sie sagte, sie sollte jetzt besser nach Hause gehen, und
wir schlendern Arm in Arm die verlassene High Street hinunter,
kichernd und flüsternd, und stolpern die Treppe
hoch zu ihrer kleinen Wohnung über dem Souvenirladen,
in dem sie arbeitet. Als wir das obere Ende der Treppe erreichen,
sieht sie mich an. Ihr Mund ist wie ein Herz geformt,
und ich verspüre einen Schwall beschwipster Lust, daher
ziehe ich sie an mich, und wir fangen an zu knutschen.
Meine Hand fasst unter ihren Rock.
Als wir fertig sind, liegen wir auf ihrer kleinen Einzelmatratze
auf dem Boden, ohne Blickkontakt aufzunehmen, den
Kopf am Hals des anderen vergraben.
Nachdem wir uns eine angemessene Weile gehalten haben,
gehe ich den Flur hinunter auf der Suche nach dem
Badezimmer. Ich taste nach einem Lichtschalter, der jedoch
zu einem Kinderzimmer gehört. Während Charlies Zimmer
spärlich, unmöbliert war, sieht dieses Zimmer aus wie
ein Showroom in einem Kaufhaus. Eine Lampe, die wie ein
Flugzeug geformt ist, gespiegelt von einer riesigen Schablone
an der Wand. Ordentlich übereinandergestapelte Kisten
voller Spielsachen. Ein Schreibtisch mit Buntstiften und
Papierstapeln. Zertifikate und Auszeichnungen an einer
Pinnwand, für Fußball und Judo und dafür, ein Superstar in
der Schule zu sein.
Neben dem Bett steht ein Nachtlicht, und ich kann es mir
nicht verkneifen, es anzuknipsen. Ich sehe zu, wie es blassblaue
Monde und Sterne an die Decke wirft. Ich trete ans
Fenster, atme den schwachen Geruch von Weichspüler und
Kindershampoo ein. In der Ecke sehe ich eine kleine gelbe
Taschenlampe, genau wie die, die Jack früher hatte, und ich
nehme sie in die Hände, fühle das harte Plastik, den haltbaren
Gummi, die großen Knöpfe, für kleine, ungeschickte Finger
gemacht.
»Hallo«, sagt Charlie, und ich zucke erschrocken zusammen.
Ihr Ton klingt beinahe fragend.
»Entschuldigung«, stammle ich. Auf einmal fühle ich
mich sehr nüchtern, und meine Hände beginnen zu zittern.
»Ich habe das Bad gesucht.«
Sie sieht auf meine Hände hinunter, und mir wird bewusst,
dass ich noch immer die Taschenlampe halte.
»Mein kleiner Junge«, sagt sie, während ein Mond von
dem Nachtlicht über ihr Gesicht tänzelt. »Er schläft heute
Nacht bei meiner Schwester, deswegen war ich auf Sauftour.«
Sie rückt ein paar Papiere und Buntstifte zurecht, legt
sie symmetrisch zur Schreibtischkante. »Ich habe das Zimmer
eben erst einrichten lassen«, erklärt sie, während sie
irgend etwas in die Schublade des Nachttischs legt. »Musste
viel von meinem Zeug verkaufen, um es bezahlen zu können,
aber es sieht hübsch aus, oder?«
»Es ist entzückend«, sage ich, denn das war es wirklich,
und sie lächelt, und wir stehen eine Weile so da und sehen
den Planeten und Sternen zu, die durchs Zimmer tänzeln.
Ich weiß, dass Charlie mich etwas fragen will: ob ich Kinder
habe, ob ich Kinder mag, aber ich will nicht antworten,
daher küsse ich sie, und sie schmeckt immer noch nach
Wodka und Zigaretten. Ich glaube nicht, dass sie sich wohl
damit fühlt, mich hier, im Zimmer ihres Sohns, zu küssen,
und sie weicht zurück, nimmt mir die Taschenlampe aus der
Hand und legt sie behutsam zurück aufs Regal. Sie schaltet
das Nachtlicht aus und führt mich aus dem Zimmer.
Wieder auf der Einzelmatratze, drückt sie mir einen sanften
Kuss an den Hals, ungefähr so, wie man einem Kind
einen Gutenachtkuss geben würde, und dann dreht sie sich
von mir weg und schläft ohne ein Wort ein. Ihre nackte Seite
ist entblößt, und das Zimmer ist kalt, daher strecke ich einen
Arm aus und stecke die Decke unter ihr fest, und dabei muss
ich an Jack denken. Schön warm und kuschelig eingepackt. Ich
trinke den letzten Rest aus meinem Flachmann, und dann
liege ich in dem blassen bernsteinfarbenen Licht wach und
lausche auf ihren Atem.
2
Am nächsten Morgen ist es kalt, aber sonnig, und ich gehe
über den Parkplatz, vorbei an dem Magic-Merlin-Souvenirladen
und den Reklametafeln, die König-Artus-Touren und
Essen für zwei zum halben Preis anbieten. Meine Ausrüstung
auf den Rücken geschnallt, steige ich eine Senke im Boden
hinunter und gehe dann über einen schmalen, felsigen
Fußweg, der das Festland mit der Insel verbindet. Zu meiner
Rechten liegt ein abschüssiges Stück Grasland, das zum
Rand der Klippen hinunterführt und durchsetzt von Kaninchenbauten
und gelegentlichen sandigen Stellen ist.
Ich habe nicht bei Charlie übernachtet. Sie regte sich, als
ich ging, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich mit
einem offenen Auge schlafend stellte, während sie auf das
Klicken des Türschlosses wartete. Die Pension lag nur ein
paar Häuser weiter. Es war seltsam, in einem Hotel zu schlafen,
wenn ich nur eine Stunde entfernt an der Küste wohnte,
aber ich wollte etwas trinken können, ohne mir Gedanken
wegen der Heimfahrt machen zu müssen.
Mit dröhnendem Kopf steige ich den felsigen Pfad hoch,
den Geschmack von Red Bull noch immer in meinem Atem.
Langsam, während die Steigung zunimmt, erklimme ich
die steilen hölzernen Stufen zu der Ruine, die Kameratasche
schwer auf meiner Schulter. Nah am Rand spüre ich
die Gischt des Meeres, und ich halte einen Augenblick inne,
um mich auszuruhen und zuzusehen, wie die Flut hereinkommt,
rasch jetzt, wie sie Sandburgen und Seetang, den
eine frühere Welle hingeworfen hat, gnadenlos hinwegspült.
Ich steige den Hügel weiter hoch bis zu dem alten Aussichtspunkt.
Hier oben sind keine Touristen, nur der Wind und das Kreischen
der Möwen. Ich finde eine flache Stelle auf dem Boden und lege
meine Holzscheibe hin, um das Stativ zu sichern, um ihm
zusätzliches Gewicht zu verleihen, damit es nicht so
leicht verrutschen kann. Ich fixiere das Objektiv,
dann befestige ich die Kamera, teste sie, um zu sehen,
ob die Rotation reibungslos funktioniert.
Die Bedingungen sind ideal. Das Meer, der Sand und das
Gras scheinen so lebendig, fast unwirklich; im morgendlichen
Licht sehen sie aus wie die Farben des Regenbogens
eines Kindes. Den Rücken zum Meer gewandt, kann ich die
natürliche Wölbung der Hügel sehen, das sanfte Gefälle ins
Tal, hinunter zu dem schmucken Städtchen. Es ist ein unglaublich
ergreifender Ort. Von hier oben könnte man fast
die Arme ausstrecken und mit den Händen über das Land
gleiten, die Erhebungen und Vertiefungen spüren, als würde
man Braille lesen.
Der Wind frischt langsam auf, warme Böen, die den Wellen
weiße Schaumkronen aufsetzen, und ich weiß, dass ich
bald anfangen muss. Ich bereite die ersten Aufnahmen für
das Panorama vor, nach Nordosten, zur Landspitze hin, ausgerichtet,
und dann beginne ich, die Stativscheibe langsam
zu drehen, wobei ich in regelmäßigen Abständen innehalte,
um Serienbilder zu machen, bis ich die ganzen 360 Grad
abgeschlossen habe.
Als das sanfte Surren der Kamera verstummt, werfe ich
einen Blick auf das kleine LCD-Display, um mich zu vergewissern,
dass alle Bilder da sind, dann packe ich meine Ausrüstung
zusammen und gehe wieder hinunter zum Parkplatz.
Das Haus ist etwa eine Autostunde weiter an der Küste. Das
Dorf liegt verlassen da, als ich hindurchfahre. Der Eckladen
ist noch immer geschlossen, dichtgemacht für die Dauer der
Nebensaison. Ich fahre an der Kirche vorbei und dann auf
der gewundenen Straße durch die Dünen, vorbei an dem
National-Trust-Parkplatz und dann auf dem unbefestigten
Weg hoch zum Rand der Klippen und dem Haus.
Nicht nur die abgeschiedene Lage des Cottage hat mich
angezogen, sondern vor allem die Art, wie es den Elementen
völlig schutzlos ausgeliefert war. Hoch oben auf einem Felsvorsprung
gelegen, gegenüber von St. Ives auf der anderen
Seite der Bucht, ist es das einzige Gebäude in Sichtweite. Es
gibt dort keinen Schutz, kein Tal, das den tosenden Atlantikwind
abhält. Wenn der Regen gegen die Fenster peitscht,
wenn die Meereswinde sich weigern nachzulassen, dann erbebt
das Haus, und es fühlt sich an, als würde es ins Meer
hinunterbröckeln.
Sobald ich zur Tür hereinkomme, schenke ich mir ein großes
Glas Wodka ein. Dann gehe ich nach oben in mein Büro,
setze mich an den Schreibtisch und starre durch das Mansardenfenster,
das auf die Bucht hinausgeht. Ich logge mich
in meine Profile bei »OK-Amor« und »Himmlisch Sündig«
ein, um zu sehen, ob ich irgendwelche Nachrichten erhalten
habe. Da ist eine, von »Samantha«, einer Frau, der ich vor
ein paar Wochen eine Nachricht geschickt habe.
Na du, du bist ja auf einmal verschwunden. Noch interessiert
an einem Treffen?
Luke Allnutt ist in Großbritannien aufgewachsen und arbeitet als Journalist.
Der Himmel gehört uns ist sein bewegender Debütroman, der international für Furore sorgte und von der Presse gefeiert wird. Noch vor Erscheinen hat er sich in 30 Länder verkauft. Luke Allnutt lebt mit seiner Frau und den zwei gemeinsamen Söhnen in Prag und schreibt derzeit an seinem nächsten Roman.
»Diese zu Tränen rührende Geschichte geht unter die Haut. Wunderschön erzählt und einfach unvergesslich.« (Clare Swatman)
»Diese einfühlsame Geschichte über die Liebe eines Vater zu seinem Sohn ist herzzerreißend schön und wird auch dann noch lange nachklingen, wenn Sie die letzte Seite längst gelesen haben.« (The Express)
»Selten findet man eine Geschichte, die so mitreißend über Liebe und Verlust erzählt. Luke Allnutt schreibt genauso überzeugend über Herzschmerz und Verzweiflung wie über die Kraft der Hoffnung.« (The Lady)