Aus dem Englischen von Andreas Jäger

Die Schneeflocken rieselten leise auf die Erde, eine nach der anderen. Ein majestätischer Anblick – doch außer Ari Thor Arason war niemand da, der sich daran erfreute. Er stand am Wohnzimmerfenster und hörte eine alte Schallplatte mit klassischer Weihnachtsmusik. Bis zur Christmette im Radio war es noch etwa eine Stunde, und er wollte sich nicht vor Punkt achtzehn Uhr am Heiligen Abend zu Tisch setzen. So war es immer schon gewesen, seit er als kleiner Junge mit seinen Eltern Weihnachten gefeiert hatte.
Es gab geräucherten Weihnachtsschinken – auch dies war eine Tradition, die er von seinen Eltern übernommen hatte. Es war schwierig gewesen, einen Schinken zu fin- den, der klein genug für eine Person war, aber wenn etwas übrig blieb, hätte er auch noch über die Feiertage etwas davon. Dass er sich an Weihnachten freinehmen konnte, gehörte zu den Privilegien, die ihm zustanden, nachdem er nun endlich einen Stellvertreter hatte – einen jungen Polizisten namens Ögmundur. Dabei waren die Feiertage ohnehin meist eine ziemlich ruhige Zeit, und außerdem hatte er auch niemanden, mit dem er die freie Zeit hätte genießen können.
Kristín war mit ihrem gemeinsamen Sohn Stefnir nach Schweden gezogen. Heute war Stefnirs dritter Geburtstag, und da schmerzte es Ari Thor ganz besonders, ihn nicht in der Nähe zu haben. Er hatte Kristín sogar vorgeschlagen, dass er Weihnachten mit den beiden in Schweden verbringen könnte, und sie hatte gründlich darüber nachgedacht, sich aber am Ende dagegen entschieden. »Wir sind noch dabei, uns einzugewöhnen – es könnte zu viel für ihn sein. Er ist doch noch so klein. Wir verbringen Ostern in Siglufjörður, und nächstes Jahr kannst du dann an Weihnachten zu uns kommen, versprochen. Lass es uns einfach langsam angehen, wenn das für dich okay ist, ja?« Er hatte sagen wollen, dass es nicht okay war, doch am Telefon keinen Streit anfangen wollen.
Die Weihnachtsmusik wurde durch das Läuten seines Handys gestört. Er ging zum Klavier, wo er es abgelegt hatte. Es war Ögmundur, sein Stellvertreter.
»Ja?«, meldete sich Ari Thor einigermaßen ungehalten. Er konnte sich nicht vorstellen, was so wichtig wäre, dass Ögmundur ihn dafür an Heiligabend stören musste.
»Ari, da war diese Frau, die dich sprechen wollte«, kam Ögmundur ohne Umschweife zur Sache.
»Welche Frau?«
»Eine ältere Dame, sie wohnt in der Hólavegur.«
»Kenne ich sie?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Sie heißt Halla und ist so um die achtzig.«
»Und wo brennt es?«, fragte Ari Thor, immer noch ziemlich verärgert.
»Ich weiß nicht genau. Sie sagte nur, dass sie mit dir persönlich sprechen will.«
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass du dich selbst darum kümmern könntest?«

Einen Moment lang war es still.
»Nein. Ich wusste ja, dass du sowieso allein bist und nichts zu tun hast. Also, soll ich dir nun ihre Nummer geben?«
Ari Thor seufzte. »Na schön …«
Zehn Minuten später saß er in Hallas großem Wohnzimmer. Er hatte den Schinken im Ofen gelassen und sich ausgerechnet, dass er sich eine halbe Stunde für die alte Dame Zeit nehmen könnte und trotzdem noch rechtzeitig zur Messe zurück wäre. Der kurze Spaziergang im Schnee war auch erfrischend gewesen. Es war fast vollkommen still im Dorf, und oben am Berghang konnte er die traditionelle Neujahrsdekoration sehen, wo die Lichter das laufende Jahr anzeigten. Am 31. Dezember um Mitternacht würden sie von 2015 auf 2016 umspringen.
Er war Halla noch nie zuvor begegnet, doch sie wusste offenbar, wer er war. Sie war nicht sehr groß, aber dennoch eine recht stattliche Erscheinung. In ihrem eleganten Weihnachtskostüm wirkte sie jung für ihr Alter, und ihre Augen blitzten klug.
»Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Ich weiß nicht, warum ich das Bedürfnis hatte, Sie gerade jetzt zu kontaktieren, aber es ist einfach so ein merkwürdiger Brief.« Dann fügte sie hinzu: »Und ich weiß, dass Sie mal Theologie studiert haben, deshalb denke ich mir, dass Sie etwas von diesen Dingen verstehen.«
Er fragte nicht, was sie mit »diesen Dingen« meinte.

Stattdessen sagte er: »Erzählen Sie mir etwas über diesen Brief.« Sie hatte ihn am Telefon schon kurz erwähnt.
Jetzt stand sie auf und ging langsam aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Brief in der Hand zurück.
»Das ist nicht der einzige, müssen Sie wissen. Es ist nur der letzte.« Sie reichte Ari Thor das Papier.
Der Brief war nicht sehr lang – eine Seite, handgeschrieben, in einer ziemlich unleserlichen Handschrift. Die Anrede lautete »Liebe Halla«, unterschrieben war er von einem Mann namens Einar. Der Inhalt war in keiner Weise verdächtig oder verstörend – nur ein paar Erinnerungen an frühere Tage und am Schluss die besten Wünsche für ein frohes Weihnachtsfest.
»Kennen Sie diesen Mann? Diesen Einar?« Sie nickte.
»Und es ist nicht der erste Brief von ihm?«
»Nein. Ich bekomme jedes Jahr einen zu Weihnachten. Soll ich sie Ihnen zeigen?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie wieder im Nebenzimmer. Als sie wiederkam, hatte sie ein kleines Holzkästchen in der Hand, das sie auf den Tisch stellte und öffnete. Es war voll mit Briefen. Ari Thor sah den Stapel durch. Die Handschrift war immer die gleiche, und alle Briefe, die er überflog, waren an Halla gerichtet und von Einar unterschrieben.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich verstehe das Problem nicht recht. Dieser Mann …« Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Belästigt er Sie vielleicht auf irgendeine Weise?«

»Nein, ganz und gar nicht.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Wissen Sie, wir waren nämlich verheiratet.«
»Sie waren verheiratet? Und sind es nicht mehr?«
»Nein. Wir haben kurz nach dem Krieg geheiratet, ich war noch sehr jung, erst neunzehn. Er war älter.«
»Und haben Sie immer hier in Siglufjörður gewohnt?«
»Ja, ich bin hier geboren. Er übrigens auch.«
»Und Sie haben sich scheiden lassen?«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Nein, er ist gestorben.«
»Er ist gestorben?« Ari Thor hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet, obwohl es eigentlich naheliegend war. Die Frau war um die achtzig, und sie hatte Ari Thor gerade gesagt, dass sie einen älteren Mann geheiratet hatte.
»Wann?«
»Vor dreißig Jahren«, erwiderte sie. »Da fing das mit den Briefen an.«
Ari Thor verspürte ein unbehagliches Kribbeln zwischen den Schulterblättern.
»Ist er gestorben oder … fortgegangen? Verschwunden?« Seine Gedanken schweiften zu seinem eigenen Vater ab, der spurlos verschwunden war, als Ari Thor noch ein kleiner Junge gewesen war.
Sie antwortete nicht sofort.
»Er ist ganz sicher gestorben«, sagte sie schließlich bestimmt.
»Dann schickt Ihnen also jemand Briefe in seinem Namen? Und das schon seit dreißig Jahren?«

Sie starrte Ari Thor nur an, als ob sie seiner Logik nicht recht folgen könnte. Vielleicht glaubte sie ja wirklich, dass die Briefe von jenseits des Grabes kamen …
»Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihnen auf diese Weise Angst einjagen will?«
»Nein.«
»Haben Sie das früher schon einmal der Polizei gemeldet?«
»Nein.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen da helfen kann«, sagte er. »Wir können uns den Fall im neuen Jahr noch einmal vornehmen, wenn Sie sich immer noch Sorgen machen.« Dann fügte er hinzu: »Befürchten Sie, dass Ihnen jemand etwas antun könnte?«
Sie lächelte. »Nein, absolut nicht. Ich bin zu alt, um mich zu fürchten. Ich habe nicht mehr sehr lange zu leben.«
»Dann haben Sie also kein Problem damit, über Weihnachten hier allein zu sein?«
»Natürlich nicht. Ich glaube, ich musste nur mal mit jemandem reden. Danke, dass Sie gekommen sind.« Sie stand auf.
»Vielleicht sollte ich Ihnen meine Telefonnummer geben, nur für alle Fälle«, sagte er.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich gebe Ihnen auch meine«, erwiderte sie.
Halla ging wieder hinaus, bevor er ihr sagen konnte, dass Ögmundur ihm schon ihre Nummer gegeben hatte.

Sie kam mit einem kleinen Zettel zurück, dann schrieb sie sich auch Ari Thors Nummer auf.
Ari Thor sah den Zettel erst an, als er in der Tür stand und sich von der alten Dame verabschiedete.
Ihr Name und ihre Telefonnummer. Die Handschrift war identisch.

Sie saßen wieder im Wohnzimmer. Die Standuhr schlug sechs.
»Keine Sorge, diese Uhr geht seit Jahren zwanzig Minuten vor. Sie werden rechtzeitig zum Weihnachtsauftakt zu Hause sein. Sie wohnen doch nicht weit von hier?«
»Fünf Minuten zu Fuß«, sagte er.
»Ich weiß. In diesem Dorf wissen doch alle über alle Bescheid.«
Sie hatte ihn wieder hineingebeten, nachdem er bemerkt hatte, dass die Handschrift auf ihrem Zettel mit der des Briefeschreibers übereinstimmte.
»Irgendwie hatte ich gehofft, dass Sie es selbst herausfinden würden«, sagte sie. »Er war kein netter Mann. Und doch habe ich diese Briefe Jahr für Jahr geschrieben, immer im Dezember, und die Erinnerungen an die guten Zeiten, die wir auch hatten, zu Papier gebracht.«
»Hatten Sie Kinder?«
»Ja. Sie leben beide im Ausland, und dieses Jahr haben sie es beide nicht geschafft, zu Weihnachten nach Hause zu kommen. Sie sind natürlich sehr beschäftigt.«
»Aber noch einmal – dass Sie sich selbst Briefe im Namen eines toten Mannes schreiben, ist doch wohl kaum eine Angelegenheit für die Polizei …«
»Ich habe Sie hergebeten, weil ich es Ihnen sagen wollte, aber dann hat mich der Mut verlassen. Aber ich bin froh, dass ich mich mit meinem Zettel verraten habe. Ich wollte Ihnen die Wahrheit sagen. Wie ich bereits sagte, ich glaube ohnehin, dass ich nicht mehr sehr lange zu leben habe.«
Sie verfiel wieder in Schweigen. Der Schneefall draußen wurde von Minute zu Minute stärker.
»Sehen Sie, ich habe meinen Mann ermordet. Vor dreißig Jahren. Niemand hat je Verdacht geschöpft. Er war ein sehr … Er war ein sehr gewalttätiger Mann.«
Ari Thor saß da und rührte sich nicht. »Sagten Sie, Sie haben ihn ermordet?«
Sie nickte.
»Ich glaube, ich hatte einfach das Bedürfnis, es irgendjemandem zu beichten, bevor ich abtrete. Es ist mir offen gesagt gleichgültig, was jetzt passiert, denn ich weiß, dass es falsch war, was ich getan habe. Ich weiß es seit dreißig Jahren, und doch habe ich es nie bereut. Ich glaube, irgendwann hätte er mich umgebracht.«
Ari Thor wollte fragen, wie sie es getan hatte, aber wenn er ehrlich war, wollte er lieber nicht zu viel wissen. Vielleicht könnte er sich irgendwann, wenn Halla nicht mehr lebte, die alte Akte vornehmen. Aber es war nicht nötig, ihr oder den Kindern jetzt Kummer zu bereiten.
Er stand auf. »Sie wollten ausdrücklich mich sprechen, nicht meinen Kollegen Ögmundur …«

Sie nickte.
»Wollten Sie mit einem Polizisten sprechen, oder … nun ja, mit jemandem, der beinahe Pfarrer geworden wäre?«
Halla lächelte.
»Ich vermute, Sie kennen die Antwort auf diese Frage. Und jetzt gehen Sie besser nach Hause, sonst verpassen Sie noch die Weihnachtsmesse, junger Mann.«

Die Kurzgeschichte »Stille Nacht« von Ragnar Jónasson ist zuvor exklusiv in »Nebel« erschienen. Deutsch von Andreas Jäger. Übersetzt wurde von der englischen Ausgabe, © Victoria Cribb, erschienen 2020 unter dem Titel »The Mist« bei Michael Joseph, London, in welcher die Kurzgeschichte unter dem Titel »The Silence of the Falling Snow« enthalten ist. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Band 1: DUNKEL von Ragnar Jónasson

Vom Ende zum Anfang: "DUNKEL" ist der erste von drei Teilen

Eine junge Frau suchte Sicherheit, doch was sie fand, war der Tod…

Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, soll frühzeitig in Ruhestand gehen, um Platz für einen jüngeren Kollegen zu machen. Sie darf sich einen letzten Fall, einen cold case, aussuchen – und sie weiß sofort, für welchen sie sich entscheidet. Der Tod einer jungen Frau wirft während der Ermittlungen düstere Rätsel auf, und die Zeit, um endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen, rennt. Eine Wahrheit, für die Hulda ihr eigenes Leben riskiert …

Lernen Sie Islands einsamste Kommissarin Hulda kennen...

Wie unter Schock taumelte Hulda zurück in ihr eigenes Büro. Sie fühlte sich, als wäre sie gefeuert worden, hochkant rausgeworfen, als ob all ihre Jahre im Polizeidienst nichts zählten. Das war eine vollkommen neue Erfahrung für sie. Und obwohl sie wusste, dass sie übertrieben reagierte, dass sie es nicht so auffassen sollte, konnte sie die Übelkeit, die in ihr hochstieg, nicht mehr hinunterschlucken.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm, ohne auch nur die Energie aufzubringen, den Computer einzuschalten. Ihr Büro, das bis jetzt ihr zweites Zuhause gewesen war, kam ihr mit einem Mal fremd vor, als hätte der Neue es bereits in Beschlag genommen. Ihr alter Schreibtischstuhl fühlte sich unbequem an, der braune Schreibtisch sah antiquiert und abgenutzt aus, die Akten bedeuteten ihr nichts mehr. Die Vorstellung, auch nur einen Moment länger hierzubleiben, war unerträglich.
Sie brauchte etwas, um sich abzulenken. Und was könnte besser sein, als Magnús beim Wort zu nehmen und in ungelösten Fällen zu wühlen? Dabei musste Hulda in Wahrheit nicht mal überlegen: Es gab einen unaufgeklärten Todesfall, der förmlich danach schrie, ihn sich wieder vorzunehmen. Die damalige Ermittlung war von einem ihrer Kollegen durchgeführt worden – sie hatte den Verlauf nur aus der Ferne verfolgt –, doch das könnte sich nun als Vorteil erweisen, weil es sie in die Lage versetzte, die Indizien unvoreingenommen zu betrachten.
Der besagte Todesfall würde fast sicher ein Rätsel bleiben, sofern keine neuen Beweise auftauchten. Aber vielleicht erwies er sich auch als verkappter Segen, als unverhoffte Gelegenheit. Die Tote hatte niemanden gehabt, der für sie eingestanden war, doch für kurze Zeit – wie kurz auch immer – würde Hulda die Rolle ihrer Advokatin übernehmen. In zwei Wochen ließe sich eine Menge erreichen. Zwar machte sie sich keine echten Hoffnungen, den Fall zu lösen, aber sie hätte zumindest ein Ziel vor Augen. Sie war wild entschlossen, jeden einzelnen Tag im Büro zu erscheinen, bis dieser »junge Mann« kam, um sie zu vertreiben. Sie hätte sich natürlich auch beim Personalrat darüber beschweren können, wie mit ihr umgesprungen wurde, und darauf beharren, bis Ende des Jahres ihrem Dienst nachzugehen; doch um darüber nachzudenken, blieb ihr immer noch reichlich Zeit. Im Moment wollte sie ihre Energie auf etwas Positives richten.
Als Erstes rief sie die elektronischen Akten zu dem alten Fall auf, um sich die Details in Erinnerung zu rufen. Man hatte die Leiche der jungen Frau an einem dunklen Wintermorgen in einer felsigen Bucht am Vatnsleysuströnd gefunden, einem dünn besiedelten Küstenstreifen im Norden der Halbinsel Reykjanes etwa dreißig Kilometer südlich von Reykjavík. Hulda war nie in der Bucht gewesen, hatte nie einen Grund gehabt, dorthin zu fahren, kannte die Gegend jedoch, weil man auf dem Weg zum Flughafen dort vorbeikam. Es war ein öder, windgepeitschter Landstrich, die kargen Lavafelder boten kaum Schutz vor den Stürmen, die regelmäßig in südwestlicher Richtung vom Atlantik hereinfegten.
In den gut zwölf Monaten, die seit dem Leichenfund vergangen waren, war die öffentliche Erinnerung daran verblasst. Nicht dass er damals große mediale Beachtung gefunden hätte. Nach den üblichen Kurzmeldungen war der weiteren Entwicklung wenig Aufmerksamkeit geschenkt und der Fokus auf neuere Nachrichten gerichtet worden. Obwohl Island mit durchschnittlich zwei Morden pro Jahr, mitunter auch weniger, als eins der sichersten Länder der Welt galt, waren Unfalltode durchaus an der Tagesordnung; doch hiesige Journalisten sahen wenig Nutzen darin, darüber zu berichten.
Es war auch nicht die Gleichgültigkeit der Medien, die Hulda damals schon gestört hatte, es war vielmehr der Verdacht, dass der Kollege von der Kriminalpolizei, der in dem Fall ermittelt hatte, nachlässig gearbeitet hatte. Alexander. Sie hatte nie viel Vertrauen in seine Fähigkeiten gehabt. Ihrer Meinung nach war er weder besonders sorgfältig noch besonders intelligent und hielt sich nur durch eine Mischung aus Hartnäckigkeit und guten Beziehungen auf seinem Posten. In einer gerechteren Welt wäre sie in den höheren Rang befördert worden – sie wusste, dass sie klüger, gewissenhafter und erfahrener war als er –, trotzdem war sie auf ihrem Karriereweg stecken geblieben. In solchen Momenten hatte sie sich nicht gegen das nagende Gefühl der Verbitterung wehren können. Sie hätte alles dafür gegeben, über die Macht zu verfügen, einem Ermittler, der seinem Job offensichtlich nicht gewachsen war, den Fall zu entziehen.
Alexanders mangelndes Engagement bei der Ermittlung war bei den Teamsitzungen deutlich zutage getreten. In gelangweiltem Ton hatte er bemüht jedes Indiz präsentiert, das auf einen Unfalltod hindeutete. Auch sein Abschlussbericht war schlampig, wie Hulda jetzt feststellte. Er enthielt eine unbefriedigend kurze Zusammenfassung des Obduktionsberichts und schloss mit dem üblichen Vorbehalt, dass man bei einer aus dem Meer angespülten Leiche unmöglich feststellen könne, ob es eine Fremdeinwirkung gegeben habe. Kaum überraschend hatte die Ermittlung nie etwas Konkretes ergeben, und irgendwann war der Fall zugunsten anderer, »dringenderer« Fälle eingemottet worden. Hulda fragte sich unwillkürlich, ob man anders reagiert hätte, wenn die junge Frau Isländerin gewesen wäre. Jede Wette, dass man den Fall einem kompetenteren Kommissar übertragen hätte, weil von der Öffentlichkeit lautstark Ergebnisse verlangt worden wären.
Die Frau war zum Zeitpunkt ihres Todes siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, so alt wie Hulda bei der Geburt ihrer Tochter. Erst siebenundzwanzig, in der Blüte des Lebens: viel zu jung, um Gegenstand einer Polizeiermittlung zu sein, geschweige denn zu einem ungelösten Fall zu werden, dessen Wiederaufnahme niemanden auch nur im Geringsten zu interessieren schien – außer Hulda.
Laut Obduktionsbericht war sie in Salzwasser ertrunken. Ihre Verletzungen deuteten auf eine vorangegangene Körperverletzung hin, aber die Frau konnte ebenso gut gestolpert, gefallen und bewusstlos ins Meer gestürzt sein.
Der Name des Opfers war Elena. Sie war Russin gewesen, hatte erst seit vier Monaten in Island gelebt und hier Asyl beantragt. Vielleicht lag es an der Schnelligkeit, mit der die meisten Elena vergessen hatten, warum es Hulda so schwerfiel, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Elena hatte in einem fremden Land Zuflucht gesucht und nur ein nasses Grab gefunden. Und niemanden kümmerte es. Hulda wusste, wenn sie diese letzte Gelegenheit, dem Rätsel auf den Grund zu gehen, nicht ergriff, würde sich nie wieder jemand die Mühe machen, und Elenas Geschichte geriete in Vergessenheit. Sie würde einfach das Mädchen bleiben, das nach Island gekommen und gestorben war.

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Düstere Spannung im Hörbuch mit mit Katja Bürkle:

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Der Video-Trailer zu Band 1 "DUNKEL"

Band 2: INSEL von Ragnar Jónasson

Teil 2: Mit "INSEL" reisen wir 15 Jahre zurück in Huldas Vergangenheit

Vier Freunde auf einer entlegenen Insel, aber nur drei kehren zurück.
Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird zu einer abgelegenen Insel geschickt. Was ist dort in dem Haus geschehen, das von der Bevölkerung als das isolierteste Haus Islands bezeichnet wird? Huldas Ermittlungen kreuzen Vergangenheit und Gegenwart – und plötzlich ist sie einem Mörder auf der Spur, der möglicherweise nicht nur ein Leben auf dem Gewissen hat …

Band 3: NEBEL von Ragnar Jónasson

Teil 3 der HULDA-Trilogie ist da!

Ein einsames Bauernhaus - und ein verhängnisvoller Besuch.

Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, kehrt nach einem Schicksalsschlag gerade wieder in ihren Beruf zurück. Um sie bei der Wiederaufnahme der Arbeit zu unterstützen, wird Hulda von ihrem Chef mit einem neuen Fall betraut: Mehrere Leichen wurden in einem abgelegenen Bauernhaus im Osten des Landes gefunden, und alles deutet darauf hin, dass sie dort schon seit einigen Wochen liegen. Was ist während der Weihnachtstage geschehen, als das Bauernhaus durch einen Schneesturm vom Rest der Welt abgeschnitten war? Und gibt es ein Entkommen vor der eigenen Schuld?

Leserstimmen

Besser in umgekehrter Reihenfolge lesen

Von: Martina Conrad
17.11.2023

Wenn man Dunkel gelesen hat, weiß man alles. Die folgenden Bände erklären dann, wie es dazu kam. Aber die Spannung ist weg. So schade.

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Spannung pur!

Von: Sarah
14.06.2022

Das Buch hat mich "gefesselt". Spannende Geschichte, sehr gut geschrieben. Jede Seite animiert zum Weiterlesen. Ich war fast traurig, als ich es durch hatte.

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Alle weiteren Infos zur rückwärts erzählten HULDA-Trilogie:

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.
Seine Bücher werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert.
Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften. Die preisgekrönte Hulda-Trilogie erscheint bei btb erstmals auf Deutsch.