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Flucht und Trauma: Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können

Fünf große Einsichten sollten wir beherzigen und daraus Konsequenzen ziehen.

Wir können aus der Geschichte der Flüchtlingsbewegungen lernen und wir müssen daraus lernen.

Die erste Einsicht besteht darin, dass es nicht nur Ängste vor dem Islam oder vor Menschen anderer Kulturen und Hautfarben sind, die Ablehnung und Abwehr produzieren. Was heute die Angst vor dem Islam ist, war früher die Angst vor den Protestanten. Was heute die Abwehr von Menschen z. B. aus arabischen Kulturen ist, war früher die Abwehr von Menschen aus den »Ost-Kulturen« Ostpreußens oder des Sudetenlands. Was heute die rassistische Abwehr von Menschen anderer Hautfarbe ist, war früher gegen die Menschen gerichtet, die nicht ostfriesisch blond waren oder dem »germanischslawischen Völkergemisch« angehörten. Ängste und Abwehr finden anscheinend immer einen Grund, besser gesagt: einen Anlass, an dem sie sich festmachen. Die Anlässe sind austauschbar, wir sollten tiefer suchen und uns nicht nur mit den Anlässen beschäftigen.

Die zweite Einsicht besteht darin, dass die meisten Vertriebenen und Flüchtlinge traumatisiert waren und dass das Verschweigen dieser Tatsache viel Leid hervorgerufen bzw. verstetigt hat. Es gab und gibt zahlreiche Spätfolgen der Tabuisierung, materielle, seelische und soziale. Wir sollten daraus lernen, die Traumata und ihre Folgen nicht zu tabuisieren, sondern sie zu erkennen und uns so früh und so gut wie möglich mit Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten zu beschäftigen.

Die dritte Einsicht sollte unseres Erachtens nach darin bestehen, dass wir auf die Wurzeln von Ablehnung und Rassismus schauen. Diese bestehen oft darin, dass Menschen die Erniedrigung und Abwertung anderer brauchen, um sich zu erheben und den eigenen Status zu behaupten. Oft ist das damit verbunden, dass eigene Traumatisierungen oder Traumafolgen, die über Generationen weitergegeben wurden, verdrängt werden. Oder dass eigene individuelle oder gesellschaftliche Schulderfahrungen ignoriert und auf »Fremde« projiziert werden. Wenn zum Beispiel die Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus immer auf die »Faschisten« abgewälzt wurde und wird, ohne dass wenigstens der Gedanke zugelassen wird, dass Angehörige der eigenen Familie beteiligt gewesen sein könnten, dann wird auch leicht »den Flüchtlingen« die Schuld und Verantwortung für alles Ungemach zugewiesen. Wenn die eigene Not der Flüchtlingsgeschichte verdrängt wird, dann kann auch die Not der jetzigen Flüchtlinge wenig oder gar nicht gesehen werden. Wenn die eigenen Ängste nicht zugelassen werden, dann werden »die Fremden« zu den Angstmachern. Wir wollen politische Haltungen und Prozesse nicht allein auf psychologische Faktoren zurückführen. Doch diese spielen eine wichtige Rolle. Das sollten wir wissen und uns damit beschäftigen.

Denn die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist ein Faktor, der die Haltung gegenüber Flüchtlingen verändert.Das ist die vierte Einsicht. Warum verändert sich etwas in Deutschland? Wir bewerten es als eine enorme Veränderung, dass es so viele Menschen gibt, die Flüchtlinge unterstützen, die ihnen helfen – durch Spenden, durch Taten, durch geopferte Urlaubstage, durch tätige Hilfen. Das wäre vor 20 Jahren nicht möglich gewesen, geschweige denn davor. Ein wichtiger Hintergrund dafür ist, dass viele Menschen sich mit den Folgen der Kriegstraumata in Deutschland beschäftigen. Sie schauen damit auch ihren eigenen Ängsten ins Auge beziehungsweise den Ängsten, die sie von ihren Eltern und Großeltern übertragen bekommen haben. Das macht freier und offener und ermöglicht, die eigene Geschichte anzunehmen. Zur eigenen Geschichte gehört, dass Deutschland ein Flüchtlingsland ist. Wer das annehmen, wer sich damit auseinandersetzen kann, kann auch offener auf Flüchtlinge zugehen, kann Mitgefühl für sich empfinden und somit auch mit den traumatisierten Menschen, die nach Deutschland kommen.

Wir beobachten – das ist die fünfte Einsicht – eine Spaltung in der Haltung gegenüber Flüchtlingen. Da teilt sich eine Linie wie ein seitlich liegendes V. Die eine Linie umfasst die Abwehr und die Ablehnung, die andere das tätige Mitgefühl und das Willkommen. Solche Spaltungen sind auch in anderen Ländern im Umgang mit Flüchtlingswellen zu beobachten. Wir wollen und können es nicht bei den beiden mehr oder weniger auseinander driftenden Polen »Ablehnung« bzw. »Willkommen« belassen. Wir brauchen ein drittes Element, einen dritten Pol: die Würde.

Das bedeutet: Wir sollten würdigen, dass Deutschland ein Flüchtlingsland ist, dass wir mit der Aufnahme, der Integration und Ablehnung schon zahlreiche Erfahrungen gemacht haben, dass es im Umgang mit Flüchtlingen Solidarität gab und viele Verletzungen, viele Narben. Wenn wir diese würdigen, wenn wir unsere Geschichte offen und ehrlich betrachten, so gut es uns möglich ist, werden wir Angst und Verdrängung abbauen und einen würdigenden Umgang mit uns und den Flüchtlingen finden.

Flucht und Trauma

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