Auf dem Weg
Jamgon fährt am 24.4.1992 in dem nagelneuen BMW und seinen
drei Begleitern, seinem jungen Assistenten Tenzin, seinem
Zeremonienmeister Kunga und seinem Chauffeur Norbu von
Sikkim hinunter nach Kalimpong in West-Bengalen. Sie brechen
um fünf Uhr früh in Rumtek auf, um zunächst noch Jamgons
Mutter Pema Yudron in Kalimpong zu besuchen. Pema
wird es eine Freude sein, zu sehen, welch großherziges Geschenk
der eine ihrer zwei großen Söhne dem anderen gemacht
hat. Kalimpong liegt am südwestlichen Ausläufer des
Himalajas. Dort vorbeizufahren ist kein großer Umweg, um
von Rumtek in Sikkim zum Flughafen Bagdogra zu kommen,
der zu der großen nordindischen Stadt Siliguri gehört.
Jamgon und sein Team sind auf den Flug nach Tibet am
26.4. um 9 Uhr früh gebucht. Obwohl es nur ein Katzensprung
von Gangtok nach Lhasa in Tibet wäre und auch eine
uralte Handelsstraße an dieser Stelle den Himalaja überquert,
geht die Reise über Delhi und Kathmandu – und zwar aufgrund
der restriktiven chinesischen Kontrollen aller Besucher,
die in das von ihnen besetzte Tibet einreisen wollen.
Alle vier sind auf der Fahrt vorschriftsmäßig angeschnallt –
und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, sind drei
Menschen tot.
Was ist passiert?
Bei Mutter Pema klingelt um 6.15 Uhr das Telefon.
Eine Frau sagt: Ein Unfall ist passiert.
Pema fragt: Gibt es Verletzte?
Die Frau antwortet: Nein.
Pema: Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.
Da hängt die Frau auf.
Pema verständigt sofort ihren Sohn Topga in Nepal. Ihn überkommen augenblicklich die schlimmsten Schuldgefühle.
Topga: Kurz vor dem Unfall war er hier bei mir in Nepal und fragte
mich, ob ich mit ihm nach Kalimpong komme, unsere Mutter zu besuchen. Aber ich hatte zu tun und sagte, ich kann nicht, ein andermal gerne. Das bereue ich zutiefst.
Topga quält die Frage: Wie konnte das passieren? Er kannte den Fahrer als sehr zuverlässig. Das Auto war nagelneu, die Straße völlig gerade und ungefährlich, was ist da passiert? Es erreichen ihn die wildesten Gerüchte. Da es große Spannungen in Jamgons Kloster wegen der Reinkarnation Karmapas
gibt, könnte sein Tod vielleicht damit etwas zu tun haben? Kann es sein, dass an dem neuen Auto eine technische Manipulation vorgenommen wurde? War es ein Attentat?
In dem letzten Gespräch, das ich mit Jamgon in Rumtek am späten Abend vor seiner Abreise hatte, lag in der Tat eine spürbare Spannung in der Luft. Sie ist in der Aufnahme unseres Gesprächs
auch deutlich zu sehen. Aber dass Jamgon 55 Stunden später tot sein wird, so weit hat natürlich niemand gedacht. Aber Pema hört, dass ihre Stimme so zittert.