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Amy Tans »Das Kurtisanenhaus«

Hintergründe zu Amy Tans neuem Roman »Das Kurtisanenhaus« - Goldmann Verlag

Die Geschichte hinter der Geschichte

von Amy Tan

Amy Tan
© Julian Johnson
Vor einigen Jahren besuchte ich mit meiner Familie im Asian Art Museum eine Ausstellung über Shanghai. In dieser Stadt hatte die Familie meiner Mutter über Generationen gelebt. Nach etwa einem Drittel der Ausstellung stießen wir auf eine Zeichnung: Frauen beugten sich über eine Balkonbrüstung, um die Stadt zu betrachten. Die Ausstellungsführerin erklärte, das wären Kurtisanen, einflussreiche Frauen, die die Populärkultur des Westens in Shanghai eingeführt hätten.

Als Tochter einer dominanten Shanghaier Mutter interessierte ich mich schon immer für die starken Frauen früherer Generationen. Im Museumsladen kaufte ich mir ein wissenschaftliches Buch über die Kultur der Kurtisanen. Ein paar Tage später entdeckte ich beim Durchblättern ein Foto von zehn Frauen, das mich verblüffte. Fünf dieser jungen Frauen waren genauso gekleidet wie meine Großmutter auf einem meiner Lieblingsbilder von ihr. Jedes Detail stimmte: ein kunstvoll bestickter Kopfschmuck, eine enge Jacke mit hohem Pelzkragen, Ärmel, die bis kurz unter die Ellbogen reichten, das weiße Futter aber ging bis zu den Handgelenken, dazu enge Hosen aus demselben Stoff. Unter dem Bild stand: „Die zehn Schönsten von Shanghai“. Es waren Kurtisanen, die im Jahr 1910 einen Beliebtheitswettbewerb gewonnen hatten, für den ihre Kunden sie nominiert hatten. Ich staunte. Sie trugen die für Kurtisanen typische Mode, las ich, und niemand sonst als Kurtisanen gingen in westliche Fotostudios. Und just in einem solchen war das Bild meiner Großmutter aufgenommen worden.

Ich machte mich daran, in unseren Familienalben nach weiteren Bildern zu suchen. Es gab einige Aufnahmen in Briefmarkengröße, die ich im Lauf der Jahre nicht weiter beachtet hatte. Sie zeigten meine Großmutter, schienen mir aber zuvor nicht weiter bemerkenswert. Ich nahm eine Lupe zur Hand und betrachtete die Bilder mit neuen Augen. Auf einem ist sie als junges Mädchen zu sehen mit extravaganter Frisur, engem Kleid, modisch ein wenig westlich angehaucht. Sie hat die Hand auf der Hüfte und sieht aus, als müsse sie sich beherrschen, nicht zu lachen. Auf einem anderen Bild ist sie älter, und sie guckt herausfordernd, beinahe finster. Einen Arm hat sie in die Seite gestemmt, die Hand an der Hüfte, die andere am Kinn. Es gab noch mehr Aufnahmen, sie zeigten sie in unterschiedlichem Alter und waren alle in westlichen Fotostudios aufgenommen.

Ich war schockiert, verblüfft, erstaunt und verspürte die Erregung einer Schriftstellerin, die auf ein Geheimnis gestoßen war, das die Entdeckung neuer Wahrheiten in sich trägt. Die Vorfahren beider Seiten unserer Familie galten stets als Ausbund an Tugendhaftigkeit, als vorbildliche Patrioten, als Diener der Familie, Gottes und/oder des Vaterlands. Gemäß der familiären Überlieferung half der Vater meiner Mutter möglicherweise bei der Revolution von 1911 mit, die Qing-Dynastie zu stürzen. Die Mutter meines Vaters nähte womöglich während der Gründung der neuen Republik eine Flagge für Sun Yat-Sen. Die Familie mütterlicherseits kam ursprünglich aus Suzhou und war wahrscheinlich wohlhabend. Es ist nicht sicher, was sie machten oder ob sie noch reich waren, als sie in den 1850er-Jahren nach Shanghai zogen. Jedenfalls waren gemäß der familiären Überlieferung alle Frauen in unserer Familie tugendhaft gewesen.

Die Mutter meiner Mutter galt als altmodisch, traditionell und ruhig, keine Frau der vielen Worte. Sie heiratete spät, mit 24 Jahren, und wurde schon mit dreißig Witwe. Manche in unserer Familie erzählen, dass unsere Großmutter als keusche Witwe lebte, doch später vergewaltigt und gezwungen wurde, Konkubine zu werden. Sie musste auf eine Insel ziehen und beging kein Jahr später Selbstmord. Andere Familienmitglieder glauben, dass sie sich freiwillig dem Haushalt eines Mannes namens Tu anschloss, der auf der Insel als Wohltäter angesehen war, weil er Straßen, Schulen, Krankenhäuser und das Bewässerungssystem baute. Er soll insgesamt sieben Frauen gehabt haben, von denen viele schon als Teenager in den Haushalt kamen. Als eine von ihnen fortwollte, um eine Schule zu besuchen, bezahlte er ihr das Schulgeld. Wie konnte man einen solchen Mann der Vergewaltigung beschuldigen? Beide Seiten der Familie sind sich allerdings einig, dass unsere Großmutter mit ihren 36 Jahren sein Liebling war. Eine ältere Verwandte, die als Kind in diesem Haus lebte, erinnerte sich daran, dass es hieß, unsere Großmutter hätte ein hitziges Temperament. Versuchte man, seine eigene Meinung durchzusetzen, „machte sie einem die Hölle heiß“. Dieses Temperament erbte meine Mutter.

Wie auch immer, die Fotos bewiesen eindeutig, dass Teile der Familiengeschichte nicht der Wahrheit entsprachen. Meine Großmutter war nicht altmodisch. Sie trug modische, gewagte Kleidung. Sie war nicht traditionell. Sie ging in ein westliches Fotostudio. Ich ging die unterschiedlichsten Möglichkeiten durch, weshalb sie diese Aufnahmen gemacht haben könnte. Vielleicht war sie als Mädchen rebellisch, wie Teenager es zu allen Zeiten sind, und genoss es, die aufsehenerregende Kleidung beliebter Mode-Ikonen zu tragen – damals waren Kurtisanen das, was heutzutage Rockstars sind. Vielleicht waren die Fotostudios besonders auf Schulmädchen ausgerichtet und hatten Kostüme parat, von Kaiserinnen, Heldinnen aus populären Romanen – oder sogar Kurtisanen. Allein die Tatsache, dass sie diese Kleidung trug, bedeutete nicht, dass sie eine Kurtisane war. Schließlich war ich auch keine Domina, nur weil ich ein solches Kostüm bei meinen Auftritten mit einer Autorenrockband trug, die für wohltätige Zwecke spielte.

Dann wagte ich das Undenkbare: Ich zog in Erwägung, dass sie wirklich eine Kurtisane gewesen sein könnte. Aber durch welche Umstände hätte es sie in die „Welt der Blumen“ verschlagen sollen? Kurtisanen haben oft eine tragische Geschichte. Sie wurden entführt, von ihrer armen Familie verkauft, oder die Familie war in finanzielle Not geraten. Doch die Eltern meiner Großmutter vergötterten sie, und ein Verwandter von mir behauptet, die Familie sei wohlhabend gewesen, daher hätte es überhaupt keinen Grund gegeben, dass sie sich derart erniedrigte. Dieses Mitglied unserer Familie war richtig wütend darüber, dass ich auch nur andeutete, unsere Großmutter hätte eine Prostituierte sein können. Unsere Großmutter habe fürchterlich gelitten und sei unsere moralische Stütze. Ich hätte ihren Namen beschmutzt.

Auch ohne die Schelte meines Verwandten war es mir wie Gotteslästerung vorgekommen, über diese Möglichkeit auch nur nachzudenken. Meine Großmutter war meine Heldin, meine Muse und meine Inspiration. Ich fürchtete, ihr berühmter Zorn würde mir zuteil werden, und sie würde meine Phantasie nicht mehr stimulieren.

Dennoch beschäftigte mich das Rätsel der Fotos weiterhin. Ich ließ das Buch liegen, an dem ich gerade gearbeitet hatte, und fing an, eine Geschichte über eine Kurtisane zu schreiben, nur gestaltete ich ihre Herkunft, ihre Lebensumstände und ihr Aussehen völlig anders. Sie war halb chinesisch und halb amerikanisch, im Geiste gefangen in den Turbulenzen beider Nationalitäten. Genau wie ich. Und so verband sich die Geschichte der Kurtisane mit mir, denn alles, was ich schreibe, basiert auf einer persönlichen Besessenheit, ist eine Untersuchung einiger gebrochener Aspekte meiner selbst – meiner Ambivalenz, meiner Ambitionen, meiner Ansichten und den Widersprüchen in meinen Ansichten. Die Geschichte handelt nicht von mir, aber die Fragen über mich sind stets präsent. Diese Fragen kann ich in imaginäre Umstände kleiden. Ich kann auch an die Menschen denken, die mich beeinflusst haben, an meine Mutter, meine Großmutter. Welche Umstände formten das Leben meiner Großmutter, ihre Meinungen, ihre Ansichten, ihre Gewohnheiten? Was hat sie an meine Mutter weitergegeben und was davon hat meine Mutter an mich weitergegeben? Was in mir kann von einem rebellischen Teenager oder einer gepeinigten Witwe abstammen? Ein Teil der Antwort auf die Frage, wer sie war, steckt in mir. Wenn ich lange genug an einem Schreibtisch sitze, erkenne ich ein bisschen mehr von ihr und von mir selbst.

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