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Vanessa Diffenbaugh: Weil wir Flügel haben

Interview mit Vanessa Diffenbaugh zu »Weil wir Flügel haben«

Wussten Sie, dass Vanessa Diffenbaugh und ihr Mann sich jedes Jahr zum Hochzeitstag einen Bananensplit teilen?

Vanessa Diffenbaugh
© Randy Tunnell Photography
Eine kurze Biographie:
Geboren und aufgewachsen bin ich in Nordkalifornien. Mein erster Job war Jongleurin auf Geburtstagsfeiern von kleinen Kindern. Wenn ich mit elf Jahren bereit gewesen wäre, meine Familie zu verlassen und zum Training nach Nebraska zu ziehen, wäre ich vielleicht irgendwann als Turmspringerin zur Olympiade angetreten. Stattdessen habe ich in Stanford Kunst und Schreiben studiert, dort meine große Liebe gefunden, geheiratet, Kinder bekommen und zwei Pflegekinder groß gezogen. Mich begeistert, dass die von mir mitgegründete kleine Wohltätigkeitsorganisation, das Camellia Network, vor kurzem von den Youth Villages aufgekauft wurde, so dass wir jetzt zusammen eine staatsübergreifende Bewegung zur Unterstützung von jungen Menschen anstoßen können, die aus ihren Pflegefamilien herauswachsen.

Warum sind Sie Schriftstellerin geworden?
Einer meiner Dozenten erklärte mir einst, das Portal zum Universellen sei der Einzelfall. Da er an der Universität arbeitete, war ihm stets bewusst, dass all die Studien, Beweise und Statistiken auf der Welt zwar sehr erhellend sein können, aber nicht ausreichen, um einen Umschwung der öffentlichen Meinung zu bewirken oder eine Bewegung in Gang zu setzen. Nur Geschichten, ob wahr oder fiktiv, können ans Herz gehen, ein Umdenken anstoßen und bestenfalls auch Handeln nach sich ziehen. Deshalb schreibe ich.

Wo finden Sie Ihre Anregungen?
Eine große Inspiration für mich war und ist Khaled Hosseini, der Autor von Drachenläufer. Als ich mit der Arbeit an Die verborgene Sprache der Blumen anfing, setzte ich mich mit seinem Werk auseinander, um Handlungsstrang und Struktur zu begreifen. Aus meiner Sicht ist Drachenläufer eine packende Geschichte und wunderbar geschrieben.

Wer sind Ihre Lieblingsautoren? Und warum?
Toni Morrison, Jeannette Winterson und Frances Hodgson Burnett. Am College lernte ich die letzte Seite von Toni Morrisons Menschenkind auswendig und sprach sie vor mich hin, wenn ich mit dem Fahrrad über den Campus radelte. Es ist eine wunderbar poetische Seite, die in wenigen, zu Herzen gehenden Abschnitten die ganze Komplexität dieses großen Werks einfängt. Toni Morrisons Schreibkunst lässt sich mit nichts vergleichen, was ich je gelesen hätte, wie von einem fremden Stern und dennoch unglaublich persönlich. Fast jedem in meinem Bekanntenkreis empfehle ich Jeannette Wintersons Buch Verlangen. Ein Lieblingsbuch von meiner Tochter und mir ist Sara, die kleine Prinzessin von Frances Hodgson Burnett.

Welches Buch oder welche Bücher haben Sie kürzlich gelesen?
Ohne Gnade von Bryan Stevenson. Es ist ein unglaublich hartes Buch zur Rassendiskriminierung in unserer Strafjustiz, aber wunderbar eindringlich geschrieben und mit einem Hoffnungsschimmer, der einem hilft, die unschöne Wahrheit wahrzunehmen und intensiv darüber nachzudenken, was man selbst zu einer Lösung beitragen könnte. Dieses Buch empfehle ich jedem, den ich kenne.

Was machen Sie, wenn Sie nicht schreiben?
Ich bringe die Kinder zur Schule, hole mir auf dem Weg zur Arbeit einen Chai, arbeite für meine Initiative, gehe zum Yoga, esse abends mit der Familie, lese meinen Kindern vor und bringe sie dann ins Bett. Dieser Sommer war einer der schönsten seit Langem, weil ich bewusst jede freie Minute mit meiner Familie verbracht habe. Ich konnte zusehen, wie mein Sohn auf dem Trampolin immer besser wurde, und habe meiner Tochter geholfen, mit zwei Freundinnen eine Hundebekleidungsfirma auf die Beine zu stellen, mit der sie Geld für die Tierschutzorganisation SPCA sammeln wollen.

Haben Sie ein Lebensmotto?
Mein Mann und ich haben den Dauerwitz, unser Familienmotto sei „Ganz oder gar nicht“ – was man sich vornimmt, zieht man auch durch, oder man lässt es gleich. Wir sind beide mutig und haben uns schon Einiges zugemutet, aber es sind immer Aufgaben, bei denen wir mit Herzblut dabei sind. Einmal wurde ich in einem Interview nach meinem Lieblingsadjektiv gefragt. Es lautet „nett“.

Gegenüber meinen Kindern benutze ich es ungefähr stündlich im Sinne von „Seid nett“, so dass diese Aufforderung wohl auch zu meinen Wahlsprüchen zählt.

Fünf Dinge über Sie, die wir noch nicht wissen.
1. Meine erste Kurzgeschichte schrieb ich mit zwölf für einen Englischlehrer, der später noch großen Einfluss auf mein Leben haben sollte. Der Titel lautete: Die enttäuschte Bank. Die Geschichte habe ich verloren und weiß auch nicht mehr, worum es ging, aber der Titel fasziniert mich nach wie vor.
2. Mit sechs Jahren bekam ich von meiner Mutter mein erstes Tagebuch. Ab da wollte ich Schriftstellerin werden. Mein erster Eintrag: „Ich habe 206 Windpocken!“
3. Meine Tochter würde gern auf einem Bauernhof leben, deshalb erweitern wir Stück für Stück unsere Ménagerie. Wir haben einen Hund, einen Wellensittich und vier Hühner.
4. Ich bin süchtig nach Chai (extra scharf!).
5. Am 9. August haben mein Mann und ich unseren Hochzeitstag. Da teilen wir uns jedes Jahr einen Bananensplit.

Wie würden Sie Ihren Roman in einen Satz fassen?
Eine Mehrgenerationenliebesgeschichte.

Was hat Sie zu diesem Buch inspiriert?
Die Idee für Weil wir Flügel haben entstand in meinem ersten Job nach dem College. Nach dem Abschluss an der Universität Stanford fand ich Arbeit in East Palo Alto. Das ist nur eine Meile von Stanford entfernt, aber eine völlig andere Welt, so viele Drogen, Armut und Verbrechen. In East Palo Alto habe ich unmittelbar erlebt, wie sehr die Menschen dort unter ihrer starken Isolation leiden. East Palo Alto liegt im Herzen der Bay Area, auf halbem Wege zwischen San Francisco und San Jose. Stanford wäre zu Fuß erreichbar, aber die meisten Kinder, mit denen ich gearbeitet habe, haben nie einen Fuß auf den Campus gesetzt, und viele von ihnen waren auch noch nie in San Francisco. Diese furchtbare Isolation inspirierte mich zu dem Ort The Landing in meinem Roman und den darin vorkommenden Charakteren. Ich wollte über die Ungleichheit in unserem Land schreiben, aber auch über die unglaubliche Kraft des menschlichen Geistes und den Wunsch, auch die größten Widrigkeiten zu überwinden.

Wer ist Ihre Lieblingsfigur in der Geschichte und warum?
Meine Lieblingsfigur ist Alex, weil ich hier meine Erfahrungen mit Trevon einfließen lassen konnte – er war 14, als er zu uns kam, und ich musste ihn kennenlernen und herausfinden, wie ich seine Mutter sein konnte, obwohl er bereits ein junger Mann war, der seine wachsende Eigenständigkeit erprobte. Bei Alex habe ich versucht, diese Erfahrung von der anderen Seite her zu beleuchten: Wie fühlt es sich an, wenn man 15 ist, immer perfekt, immer verantwortlich, und dann zum ersten Mal lernen soll, wie man jemandem vertraut?

Welche Szene fiel Ihnen beim Schreiben am schwersten?
Der Prolog. Es ist sehr schwer, die Perspektive einer Mutter anzunehmen, die ihre Kinder im Stich lässt, ohne dass die Leser dabei jegliche Empathie verlieren und das Buch zur Seite legen.

Möchten Sie ein paar Worte an Ihre deutschen Leser richten?
Ich werde oft gefragt, warum ich über soziale Themen schreibe und ob ich eine bestimmte politische Haltung vertreten würde. Was mich antreibt, sind die Belange von Pflegefamilien und Gleichberechtigung. Das sind die Themen, die ich in meinen Büchern gern näher untersuche. Die Politik klammere ich beim Schreiben lieber aus, weil sie in meinen Augen die Geschichte stören würde. In Bezug auf den Sinn der Kunst mag ich ein Zitat von Tobias Wolff aus einem Interview mit der Paris Review. Die Frage, ob ein Autor seiner Ansicht nach verpflichtet sei, politisch zu schreiben, beantwortete er dort mit den Worten: „Die radikalste Form, politisch zu schreiben, ist, dem Leser die Realität eines anderen menschlichen Wesens bewusst zu machen.“ Dieses Zitat liebe ich, und ich halte es für wahr. Ich greife in der Tat soziale Fragen auf, aber in erster Linie möchte ich über Menschen schreiben. Denn ich glaube ein Thema kann uns nur dann wichtig werden, wenn uns die Menschen wichtig sind, die sich diesem Thema stellen müssen. Pflegestellen und Immigration sind zwei Beispiele für Themen, die man leicht ignorieren kann, wenn man sie nicht miterlebt. Viele Menschen werden nie in Pflege genommen, verlieren kein Kind an das Pflegekindersystem, werden nie Pflegeeltern und kennen auch niemanden, der unmittelbar von diesen Themen betroffen ist. Für Immigration gilt dies in vielen Teilen Amerikas ebenso. Romane sind für mich eine der besten Möglichkeiten, hautnah die Erfahrungen eines anderen zu durchleben, der anders ist als man selbst, jemand, der mit etwas zu kämpfen hat, was man selbst vielleicht nie in Betracht gezogen hätte. Und wenn man auf diese Weise in die Haut eines anderen schlüpft, ist es nahezu unmöglich, für diese Erfahrung keine Empathie zu entwickeln.