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Christina Baker Kline »Der Zug der Waisen«

Interview mit Christina Baker Kline zu »Der Zug der Waisen«

Christina Baker Kline, Autorin von „Der Zug der Waisen“, im Gespräch mit der Journalistin und Buchautorin Roxana Robinson


Würden Sie uns erzählen, was Sie auf die Idee zu Ihrem Roman gebracht hat?

Vor ungefähr zehn Jahren fiel mir während eines Besuchs bei der Familie meines Mannes in North Dakota ein Sachbuch in die Hände. Es war bei der Fort Seward Historical Society erschienen und trug den Titel Century of Stories: Jamestown and Stutsman County, 1883-1983. Darin fand ich einen Artikel mit der Überschrift „They called it ‚Orphan Train‘ – and it proved there was a home for many children on the prairie”. Der Großvater meines Mannes, Frank Robertson, und seine Geschwister spielten eine bedeutende Rolle in dieser Geschichte. Das war völlig neu für mich – ich hatte noch nie zuvor von den „Orphan Trains“ gehört. Im Laufe meiner Recherchen zu diesem Stück Familiengeschichte fand ich heraus, dass die Waisenzüge zwar tatsächlich in Jamestown, North Dakota, hielten und auch Waisenkinder von Familien aus dieser Stadt adoptiert worden sind, der Robertson-Clan aber stammte aus Missouri. Frank Robertson und seine Geschwister waren also nicht mit dem Waisenzug gefahren. Dennoch war mein Interesse geweckt, und ich wollte mehr über diesen wenig bekannten Abschnitt der amerikanischen Geschichte erfahren.


Was fanden Sie an dem Thema so spannend?

Ich glaube, die Geschichte der „Orphan Trains“ hat mich angezogen, weil auch meine Großeltern Waisen waren und wenig über ihre Kindheit sprachen. Als Romanautorin war ich immer schon fasziniert davon, wie Leute ihre Lebensgeschichten erzählen und was diese Geschichten – beabsichtigt oder nicht – über sie verraten. Mich interessieren die Pausen zwischen den Worten, das Schweigen, das auf ein lang gehütetes Geheimnis hindeutet, die Auslassungen, die den äußeren Anschein Lügen strafen.

Ich habe selbst irische Vorfahren, und daher beschloss ich, über ein irisches Mädchen zu schreiben, das fast sein ganzes Leben über die Umstände seiner Reise mit dem Waisenzug schweigt. Ich wollte darüber schreiben, wie traumatische Erlebnisse, die sich unserer Kontrolle entziehen, unser Leben bestimmen und formen können. „Menschen, die die Schwelle zwischen der ihnen bekannten Welt und dem Ort, wo das Unmögliche geschieht, überschreiten, stehen vor dem Problem, anderen diese Erfahrung nur schwer übermitteln zu können“, schreibt Kathryn Harrison in ihren Buch While They Slept, in dem sie sich mit einem berühmten Familienmordfall in den USA auseinandersetzt. Im Verlauf meines Romans gelangt die Hauptfigur Vivian von dem Gefühl der Scham über ihre Vergangenheit zu dem Punkt, an dem sie diese akzeptiert und schließlich mit dem abschließen kann, was sie durchgemacht hat. Dabei erfährt sie die regenerative Kraft des Aufarbeitens – und Erzählens – ihrer eigenen Geschichte.

Wie meine früheren Romane setzt sich Der Zug der Waisen mit Fragen der kulturellen Identität und der Familiengeschichte auseinander. Aber mir war gleich klar, dass dies eine größere Geschichte war, die intensive Recherchen erfordern würde. Das weite Themenfeld reizte mich enorm. Ich war erpicht darauf, meinen Themenbereich auszuweiten.


Sind Sie in den Mittleren Westen gefahren, um die Schauplätze, die Sie beschreiben, zu besuchen?

Ich fahre seit Jahrzehnten nach Minnesota und North Dakota. Ich kenne Minneapolis ganz gut und empfinde eine große Affinität zu dieser Region. Die Familie meines Mannes hat ein Haus an einem See in der Nähe von Park Rapids, Minnesota, und ich habe dort viel Zeit verbracht. Einige der kleinen Städte, die ich in diesem Roman beschreibe, sind erfunden, wie zum Beispiel Spruce Harbor in Maine, wo die Gegenwartsgeschichte des Romans spielt. Eine imaginäre Stadt in eine reale Landschaft zu setzen, verleiht mir die Freiheit, beim Schreiben Dinge erfinden zu können.


Welche Art Recherchen haben Sie für das Buch betrieben? Haben Sie Menschen interviewt, die zu dem Thema eine Verbindung hatten? Wie war das?

Ich fand im Internet Artikel aus der New York Times und anderen Zeitungen, und dann las ich Hunderte von Erfahrungsberichten aus erster Hand von sogenannten „Train Riders“ - „Zugfahrern“ -, außerdem Texte von Ehemaligengruppen und aus historischen Archiven. Diese Recherchen führten mich zur New York Public Library, wo ich auf eine Fundgrube von Material stieß. Ich habe Sachtexte verschlungen, Kinderromane, Bilderbücher, und ich stellte Nachforschungen im New York Tenement Museum und auf Ellis Island an. Ich bin auch nach Galway in Irland gereist, um den irischen Hintergrund meiner Hauptfigur zu untersuchen.

Während ich das Buch schrieb, besuchte ich Treffen von ehemaligen Zugfahrern und ihren Nachkommen. Es sind nicht mehr viele von ihnen übrig; die, die noch leben, sind alle über neunzig Jahre alt. Ich war überrascht, wie begierig sie darauf waren, mir und anderen ihre Geschichten zu erzählen. Als ich mit ihnen sprach und ihre mündlich überlieferten Geschichten las, fiel mir auf, dass sie dazu neigten, kaum auf die beträchtlichen Entbehrungen einzugehen, die sie erlitten hatten. Stattdessen betonten sie, wie dankbar sie seien für ihre Kinder, Enkelkinder, Gemeinden - für Lebenswege, die nicht möglich gewesen wären, wenn sie nicht mit den Waisenzügen gefahren wären. Mir wurde klar, dass ich in der Fiktion etwas tun konnte, was im wahren Leben schwierig ist: Ich konnte auf die schockierenden Details dieser Erfahrungen eingehen, ohne die Geschichte einer Erlösung erzählen zu müssen.


Was hat Sie bei den Recherchen am meisten überrascht? Gab es etwas, das Sie nicht erwartet hatten?

Viele Menschen glaubten jahrzehntelang, dass der Zug, mit dem sie gekommen waren, der Einzige war. Sie wussten nicht, dass sie Teil eines gewaltigen, fünfundsiebzig Jahre andauernden gesellschaftlichen Experiments waren. Erst als ihre Kinder und Enkelkinder Fragen stellten (Schätzungen zufolge gibt es mehr als zwei Millionen Nachkommen), trafen sie andere Zugfahrer und fingen an, ihre Geschichten weiterzuerzählen.


Sie haben zwei Mädchen im Teenageralter als Hauptfiguren gewählt, und obwohl die Zeit und die Verhältnisse, in denen sie leben, völlig unterschiedlich sind, haben die beiden vieles gemeinsam. Könnten Sie dazu etwas sagen?

Wenn man Romane schreibt, verlässt man sich oft auf seinen Instinkt. Als ich anfing, über Molly zu schreiben, ein siebzehnjähriges Pflegekind indianischer Abstammung, habe ich nicht sofort die Parallelen zur einundneunzigjährigen, reichen alten Witwe Vivian erkannt. Aber im Laufe des Schreibens merkte ich, dass es außer einigen biographischen Parallelen – beide Figuren haben einen toten Vater und eine Mutter, die in eine Anstalt eingewiesen wird, beide sind von einem Zuhause zum nächsten geschickt worden und aufgrund kultureller Stereotypen auf Vorurteile gestoßen, beide halten an einem Erinnerungsstück fest, das sie von einem Familienmitglied bekommen haben – auch psychologische Ähnlichkeiten gibt. Für beide ist die Veränderung ein entscheidendes Prinzip; sie mussten von früher Kindheit an lernen sich anzupassen, eine neue Identität anzunehmen. Sie haben einen großen Teil ihrer Lebenszeit damit verbracht, Risiken aus dem Weg zu gehen, komplizierte Verstrickungen zu meiden und über die Vergangenheit zu schweigen. Erst als Vivian – durch ihre Antworten auf Mollys gezielte Fragen – anfängt, der Wahrheit über das, was vor langer Zeit geschehen ist, ins Auge zu sehen, finden beide Frauen den Mut, in ihrem Leben etwas zu ändern.


Können Sie etwas über ihre Verbundenheit zu Maine sagen, einem Ort, den Sie in Ihren Büchern oft erwähnen?

Obwohl meine Eltern beide aus dem Süden stammen, sind wir nach Maine gezogen, als ich sechs Jahre alt war, und haben es nicht bereut. Ich bin nicht so naiv, mich selbst als Kind Maines zu betrachten – auch wenn zwei meiner jüngeren Schwestern, die in Maine zur Welt kamen, das vielleicht tun würden (die Menschen aus Maine sind sich bei diesem Thema tendenziell uneinig) – aber ich habe meine prägenden Jahre in Bangor, einer Stadt mit 35000 Einwohnern am Penobscot River im Herzen von Maine, verbracht. Vor ungefähr zehn Jahren haben sich meine Eltern nach Bass Harbor, eine winzige Küstenstadt auf Mount Desert Island, zurückgezogen. Meine drei Schwestern haben Häuser, die weniger als zwei Meilen von dem Haus unserer Eltern entfernt liegen, und eine von ihnen lebt mit ihrer Familie das ganze Jahr über dort. Ich habe das Glück, den Sommer und andere Ferienzeiten auf der Insel verbringen zu dürfen; meine drei Jungs betrachten sie als ihre Heimat. Für mich ist die Sache ganz einfach: Maine ist ein Teil von mir.


Können Sie etwas über den Umgang mit der Zeit in Ihrem Roman sagen?

Die Gegenwartsgeschichte in Der Zug der Waisen erstreckt sich über mehrere Monate, der Vergangenheitsteil umfasst vierundzwanzig Jahre, von 1929 bis 1943. Es hat eine Weile gedauert, die einzelnen Abschnitte miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, so dass sie einander ergänzten und weiterentwickelten.
Wenn ich Romane mit verschiedenen Handlungssträngen lese, merke ich oft, dass ich den einen dem anderen vorziehe und es kaum erwarten kann, wieder zu dem zurückzukehren, den ich lieber mag. In Der Zug der Waisen habe ich versucht, das zu vermeiden, indem ich die beiden Geschichten so miteinander verknüpft habe, dass sie aufeinander antworten und Bezug nehmen – zum Beispiel bekommt Vivian in einem Abschnitt von ihrer Großmutter eine Halskette geschenkt, und ein paar Seiten später äußert sich Molly in der Gegenwartsgeschichte zu dieser Halskette. Aber diese Referenzen sollten nicht zu wörtlich und offenkundig sein. Das war kompliziert! Ich wollte auch, dass der historische Teil mit einer überraschenden Offenbarung (die ich hier nicht preisgeben möchte) abrupt endet, und dass der Gegenwartsteil an dieser Stelle anknüpft und dabei die Funktionsweise des Romans enthüllt: Dass Vivian in der gegenwärtigen Zeit Molly ihre Geschichte erzählt. Mitunter habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie das alles zusammenpasst. Mehr als einmal ist, Gott sei Dank, meine Lektorin eingeschritten und hat eine Lösung gefunden.