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Jack Ketchum, Horrorliteratur, Heyne Hardcore

Jack Ketchum - der "gruseligste Mann Amerikas"

ERINNERUNG AN EIN GEFÄHRLICHES LEBEN

Jack Ketchums Roman Versteckt spielt in einer verschlafenen Kleinstadt in Amerika. Vier Jugendliche streifen auf der verzweifelten Suche nach einem Adrenalinkick durch den Ort. Sie ersinnen ein gefährliches Spiel – mit grausamen Folgen.
Meisterhafter psychologischer Horror, dafür ist Ketchum bekannt. Was den Lesern bei der Lektüre verborgen bleibt: Versteckt ist gleichzeitig eines seiner persönlichsten Bücher.

Als »Versteckt« zum ersten Mal erschien, rief mich eine Frau an, von der ich seit langer Zeit nichts gehört hatte. In dem Buch geht es um mich, oder?, sagte sie. Da hatte sie vollkommen recht. Nichts, absolut gar nichts in diesem Buch gibt Außenstehenden auch nur den kleinsten Hinweis darauf, aber sie hatte trotzdem gemerkt, dass »Versteckt« eine Metapher für unsere Beziehung war.

Auszüge aus Erinnerung an ein gefährliches Leben,
in Jack Ketchum: Versteckt

Aus dem Amerikanischen von Kristof Kurz

Die erste große Liebe meines Lebens war auf Speed. Sie war süchtig nach Crystal Meth.

1967 ist schon lange her, daher erinnere ich mich auch nicht mehr genau, wie ich sie kennenlernte. Sie studierte am Emerson College in Boston – als sie anfing, sich das Zeug zu spritzen, war sie im zweiten Semester, ich im dritten. Irgendwie bin ich ihr da wohl über den Weg gelaufen, aber die genaueren Umstände habe ich vergessen.

(…)

Sie ging ins Badezimmer, und heraus kam eine andere Version von ihr. Auf einmal war sie bestens gelaunt und guter Dinge, obwohl sie nur Augenblicke vorher zu Tode betrübt über das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater damals in New Jersey gesprochen hatte, über den Ärger, den sie kriegen würde, wenn ihre Eltern herausbekamen, dass sie das College abgebrochen oder mit ihrem Ex-Freund Schluss gemacht hatte und so weiter. Jetzt ging sie so zielstrebig durchs Apartment, als hätte sie nur eine einzige Aufgabe, und das war ausgerechnet Putzen. Sie wischte jede Oberfläche in der Wohnung immer und immer wieder ab, fummelte am Plattenspieler herum und redete über die Songtexte der Beatles oder von Donovan. Sie zog Bücher aus ihrem Regal, um dies oder jenes nachzuschlagen oder las mir Gedichte von Rilke oder Baudelaire oder Rimbaud vor. Oft ging das die ganze Nacht und bis früh in den Morgen so.

Als sie mir schließlich die Quelle dieser Energie verriet, war ich nicht besonders überrascht. Ich hatte mir auch gelegentlich ein Dexedrin eingeworfen, um eine Seminararbeit fertig zu schreiben, und einmal hatte ich sogar eine Black Beauty versucht. Das Problem war, dass sie das Zeug spritzte. Vor der Nadel hatte ich Angst. Was, wenn sie eine Überdosis nahm? Oder eine kleine Luftblase in der Spritze in ihrem Hirn explodierte?

Jedes Mal, wenn sie ins Badezimmer ging, hatte ich Angst, sie nie wiederzusehen.

Jedenfalls nicht lebendig.

Um einigermaßen mit ihr mithalten zu können, fing ich an, das Zeug zu schnupfen. Unter der Woche hielt ich mich streng an den Stundenplan, doch am Wochenende schliefen wir überhaupt nicht mehr. Nach zwei durchwachten Tagen und Nächten, in denen wir nichts als Orangensaft für den Vitamin-C-Bedarf zu uns nahmen, war es verdammt hart, wieder runterzukommen.

(…)
Es gibt da ein Sprichwort, vielleicht ist es auch ein Zitat von William S. Burroughs: Es gibt alte Junkies, aber keine alten Speed-Freaks.

Das hatte ich oft gehört.(…)

Ich rief ihre Schwester an und erzählte ihr alles.

Sag es deinen Eltern, sagte ich. Sie sollen deine Schwester abholen. Ich glaube, sie stirbt.

Dieser Anruf war nicht leicht, denn er beendete auch unsere Beziehung. Jen würde mir diesen Anruf niemals verzeihen. Wie auch? Ich hatte ihr größtes Geheimnis verraten, schonungslos ihre tiefste Wunde offengelegt. Ich stürzte nicht nur sie, sondern auch ihre Familie in eine Welt des Schmerzes.

(…)

Die Therapie bewirkte langsam und mühselig Wunder. Jen heiratete, bekam ein Kind. Ließ sich scheiden, heiratete wieder.

Als ich das letzte Mal von ihr hörte, wirkte sie glücklich. Wir blieben seltsamerweise all die Jahre über in Verbindung. Ab und zu rief ich sie an. Nicht an ihrem Geburtstag oder an Feiertagen, sondern einfach so. Sie sagte mir immer, dass es richtig unheimlich wäre, weil ich genau dann anrief, wenn sie depressiv oder schlecht gelaunt sei. Als ob ich über weite Entfernungen spüren könnte, dass sie mit mir und nur mit mir reden wollte, und dass sie unsere Gespräche trösteten.

Der Kontakt brach vor Jahren ab. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Wir haben keine gemeinsamen Freunde, die ich fragen könnte.

Jen, wo immer du auch bist – ich hoffe, es geht dir gut. Bitte verzeih mir diese grobe Skizze von dir. Ich weiß, sie wird dir nicht gerecht.

Ich vermisse weder, dass du mit deinem Leben gespielt hast noch die Risiken, die wir eingingen. Aber man vermisst immer die, die man geliebt hat. Das ist so, ob sie nun tot sind oder lebendig, ob sie glücklich sind oder traurig. Das liegt in der menschlichen Natur und wird erst enden, wenn auch das Leben zu Ende geht.

Und vielleicht, mit etwas Glück, lebt es auch darüber hinaus noch fort – in den Zeilen eines dünnen Buches.