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#winterbergsletztereise

Jaroslav Rudiš auf Reisen mit Wenzel Winterberg und Jan Kraus

Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg, wurde als Sudetendeutscher nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Fast hundert Jahre alt hat er sich von der Welt scheinbar verabschiedet. Es sind die Erzählungen seines tschechischen Krankenpflegers Jan Kraus aus dessen Heimatort Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe – eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest.

Jaroslav Rudiš ist während der Arbeit an seinem Roman „Winterbergs letzte Reise“ viele Monate mit der Eisenbahn durch das östliche Mitteleuropa gereist. In diesen Bildern können seine Leserinnen und Leser die Reise an Momentaufnahmen einzelner Stationen nachvollziehen.

#winterbergsletztereise

Unter dem Hashtag #winterbergsletztereise postet der Autor regelmäßig Bilder von den Schauplätzen des Romans und Neuigkeiten rund um das Buch.

Berlin, Friedhof Heerstraße

„Winterberg zeigte mir den Friedhof Heerstraße, wo seine drei Ehefrauen an der Mauer begraben liegen und wo er auch begraben liegen wird, wenn er stirbt, denn der Friedhof Heerstraße ist an zwei Seiten von Bahnstrecken umgeben, und er kann sich nicht vorstellen, ohne Züge einzuschlafen.“

Berlin, Hauptbahnhof

„Der neue Berliner Hauptbahnhof ist eine Falle, ja, ja, ein Obduktionssaal, ein Mauseloch aus Glas und Stahl. Ein Königgrätz der Baukunst. Ein Bahnhof fast ohne Schienen, fast ohne Weichen, fast ohne Eisenbahner, ja, ja, ein Bahnhof ohne Eisenbahner ist kein Bahnhof. Ein Bahnhof ohne Eisenbahner ist ein Friedhof.“

Leipzig, Hauptbahnhof

„Winterberg erzählte, wie er diesen Bahnhof schon seit jeher bewunderte. Er erzählte vom schönsten Kopfbahnhof Deutschlands. Vom schönsten Kopfbahnhof Europas. Vom schönsten Kopfbahnhof der Welt. Er erzählte, wie Leipzig seinen Kopfbahnhof durch einen Tunnel unter der Stadt verloren hat. Er erzählte, er wolle sich den Tunnel nicht anschauen. Er erzählte, es mache ihn melancholisch. ‚Ja, ja, viele der Kopfbahnhöfe gehen in der Geschichte verloren und viele Köpfe auch, unsere Kopflosigkeit wird kein gutes Ende nehmen.“

Dresden, Bahnhof Dresden-Neustadt

„Die armen Sachsen, warum werden die Sachsen in der Geschichte immer vergessen.“

Zittau, Bahnhof

„Zittau wird leider historisch genauso unterschätzt, wie das ganze Sachsen heute historisch unterschätzt wird, ja, ja, hier sind wir fast schon in Böhmen, die Stadt trägt im Stadtwappen immer noch den böhmischen Löwen.“

Reichenberg, Bahnhof

„In diesem Tunnel habe ich Lenka zum letzten Mal gesehen. Ich brachte sie zum Zug, doch sie wollte nicht, dass ich hoch bis zum Bahnsteig komme, ja, ja, sie hatte Angst gehabt, sie würde dann nicht abfahren.“

Reichenberg, Feuerhalle

„Ja, ja, lieber Herr Kraus, bald werde ich hundert Jahre alt … Ich werde genauso alt wie diese Feuerhalle, genauso alt wie die tschechoslowakische Republik, ja, ja, bald feiern wir alle gemeinsam unseren Geburtstag, die Feuerhalle, die Republik und ich. Wir feiern die Geburt und auch den Untergang.“

Reichenberg, Ratskeller

„Meine antitschechoslowakische Mutter musste weinen, als mein Vater Opfer seiner tschechoslowakischen Überzeugung wurde, als ihm ein Hilfsarbeiter aus einer Zementfabrik und verblödeter Henleinjunge und Hitlerjunge am 15. März 1939 im Reichenberger Ratskeller den Kopf mit einem Bierkrug zertrümmert hat.“

Schlucht zwischen Turnau und Semil

„Semil war immer bekannt wegen der Holzindustrie, das schönste Holzspielzeug kam von hier, sagte mein Vater immer, das schönste Holzspielzeug und die schönsten Holzsärge, ja, ja, aus den Holzbrettern baute man die Holzsärge und aus den Holzresten das Kinderspielzeug, ja, ja, das Kinderspielzeug und die Holzsärge, das sind die wahren Exportschlager von Semil.”

Alt-Paka, Bahnhof

„Ich rauchte und Winterberg schlief mit dem Kopf an das Fenster gelehnt und die rote Sonne ging über dem Böhmischen Paradies unter, und es sah so aus, als ob die weiße, verschneite Landschaft blutete. Die böhmischen Granaten.“

Chlum, Schlachtfeld bei Königgrätz

„Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz. Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von meinem Ende. Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von allen meinen Katastrophen, der Anfang von allen unseren Katastrophen, wenn man im Zeichen der Schlacht bei Königgrätz geboren wurde, ist man für immer verloren.“

Jitschin, Schloss

„Ja, ja, wenn die Geschichte ein Eisenbahnnetz wäre, wäre Jitschin ein Hauptbahnhof …“

Prag, Hauptbahnhof

„Ich dachte, Winterberg wolle sich Prag anschauen, so wie alle, doch er wollte es nicht. ‚Prag schauen wir uns in Wien an.‘ Er erzählte, das Einzige, was ihn als Eisenbahnmensch wirklich an Prag interessierte, war der Hauptbahnhof, das Eisenbahnherz von Böhmen.“

Prag, Nepomuk

„Nepomuk ist die bekannteste Wasserleiche der Moldau, vielleicht die bekannteste Wasserleiche auf der ganzen Welt.”

Böhmerwald, zwischen Budweis und Linz

„Der Schaffner sagte, an manchen Wintertagen fahren überhaupt keine Fahrgäste über die Grenze und dann sitzt er im Zug ganz allein. Er sagte, eigentlich ist es an vielen Wintertagen so. Er sagte, er mag es. Er sagte, er mag den Winter im Böhmerwald.“

Winterberg, Chronik

„Wir fuhren durch die Nacht und ich las über die Geschichte von Winterberg, das auch Windberg hieß und jetzt Vimperk heißt. Ich las über die Stadt, die ich so hasste und verlassen musste.“

Pilsen, Hauptbahnhof

„Ich trank das nächste Bier und dachte an den Krieg, den mein Vater mit anderen Männern immer im Gasthaus führte. Den Krieg zwischen Budweiser und Pilsner Urquell. Stundenlang konnte sich mein Vater mit den anderen Männern darüber streiten, welches Bier das beste Bier auf der Welt ist. Pilsner Urquell oder Budweiser?“

Bad Ischl, Bahnhof

„Die Kaiservilla ist zu groß … Ja, ja, die Villa ist zu groß, der Garten ist zu groß, alles ist zu groß … Alles zu feucht, alles zu morsch, alles zu alt … Ja, ja, so wie ganz Österreich … Alles so schön, doch alles zu feucht, alles zu morsch, alles zu alt … Alles so groß, dass man es nicht zusammenhalten kann.”

Wien, Zentralfriedhof

„Sie erzählte, dass ein Rentner, der jeden Tag in die Kaisergruft komme und die Särge zähle, ob nicht ein Sarg fehle, und der sich dabei jeden Tag verzähle, ihr sagte, einmal kämen alle Teile wieder zusammen und das alte Österreich würde auferstehen.“

Wien, Heeresgeschichtliches Museum

Die blutige Uniform des Thronfolgers Franz Ferdinand nach dem Attentat von Sarajevo

„‚Überall Blut, ja, ja, ich weiß, was Sie sagen möchten, lieber Herr Kraus, überall Blut. Auf der Brust und auf dem Bauch und auf den Ärmeln und auf den Beinen. Überall Blut. Verrückt, alles verrückt, Cornus sanguinea.‘ Das Blut war das Blut von Franz Ferdinand. Von dem Thronfolger.“

Wien, Heeresgeschichtliches Museum

„Die Batterie der Toten“, Gemälde von Václav Sochor

„Winterberg schaute sich lange das Gemälde an, die vielen Toten und die wenigen Lebenden, und schwieg. Und dann fing er an zu weinen. Und ich wollte ihn trösten. Doch er war nicht zu trösten.“

Wien, Gasthaus Sarajevo

„Sarajevo wie Sarajevo … Ich sage dir, mein Sarajevo ist das beste und schönste Sarajevo in Wien."

Brünn, Weiche am Hauptbahnhof

„Sie haben sicher bei der Einfahrt die Weichen gesehen, ja, ja, die Weichen verbinden uns, die Weichen trennen uns aber auch wieder, leider, leider … Sie brauchen nur eine einzige falsch gestellte Weiche, und schon verwandelt sich die Geschichte wieder in eine Feuerhalle.“

Brünn, Hauptbahnhof

„Winterberg erzählte, wie ihm der Mann erzählte, dass die wahre Stadt Brünn unter der Stadt Brünn liegt und dass die Stadt, die wir sehen, nur eine Spiegelung der Stadt unter der Stadt ist. Er erzählte, wie ihm der Mann erzählte, der Eingang zur Stadt Brünn unter der Stadt Brünn liegt irgendwo zwischen dem Hauptbahnhof und dem Kohlmarkt und er findet bald raus, wo genau er ist.“

Brünn, Kaisergruft

„Er erzählte, in der Gruft war es kalt und er war ganz allein da, bis er am Sarg von Trenck einem Japaner begegnete, der dachte, die grauschwarze Mumie sei nicht der Baron von Trenck, sondern Wallenstein. Er erzählte, wie ihn die Tatsache, dass der Japaner in der falschen Stadt am falschen Grab steht, sehr berührte und zugleich sehr melancholisch machte. Er erzählte, wie er draußen vor der Gruft feststellte, dass der Japaner ein Koreaner ist und als Professor für moderne Geschichte in Seoul an der Universität lehrt.”

Brünn, Dreifaltigkeitssäule

„Er erzählte, wie der Koreaner und er sich auf dem Kohlmarkt im Schneegestöber die spätbarocke Dreifaltigkeitssäule anschauten und wie die Heiligen sie sanft und versöhnlich oben von der Säule anschauten, darunter auch Nepomuk, die bekannteste Wasserleiche aus der Moldau. Er erzählte, wie er trotz der versöhnlichen und barmherzigen Blicke der Heiligen der Dreifaltigkeitssäule die ganze Zeit an die wunderliche Dreifaltigkeit des Krieges von Clausewitz denken musste, denn diese Dreifaltigkeit kannte keine Versöhnung und Barmherzigkeit, und wie es ihn melancholisch machte.”

Austerlitz

„Es war so schön, ja, ja, so was Schönes habe ich in meinem Leben noch nie erlebt, le Soleil ďAusterlitz über the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer sagen würde, ja, ja, schade, dass Sie nicht dabei waren, schade, dass der Engländer nicht dabei war, schade, dass Lenka nicht dabei war.”

Bratislava, Hauptbahnhof

„In Bratislava mussten wir auf den nächsten Zug nach Budapest
warten. Wir saßen in der Kneipe gleich vor dem Bahnhof. Ich trank
Bier aus der Ostslowakei und studierte die Speisekarte mit den
verschiedensten Schnitzeln, die es hier gab.
Tatraschnitzel.
Fatraschnitzel.
Bärenschnitzel.
Ich bestellte zuerst eine Gulaschsuppe.“

Budapest, Bahnhof Budapest Keleti

„Winterberg sagte, er wollte sowieso immer Ungarisch lernen, denn nur wenn man Ungarisch versteht, kann man auch seinen Baedeker vollständig verstehen. Seinen Baedeker. Unser Mitteleuropa. Unsere Welt. ‚Wenn man kein Ungarisch spricht, versteht man unsere Welt nur zur Hälfte.‘“

Budapest, Burgbergtunnel

„Wir gingen zum Tunnel, in den die Brücke mündete. Wir gingen an zwei großen Löwen vorbei, die die Brücke bewachten. Man sah ihre Zähne und Pfoten, sie schauten von der Brücke zum Tunnel. Wir gingen und sahen dann wirklich die kleine Wohnung in der Einfahrt des Tunnels. In einem Zimmer brannte Licht. Und Winterberg schaute sich die Klingel an, wo kein Schild und kein Name stand. Und dann klingelte er.“

Ungarn, Plattensee

„Das muss der Plattensee sein … Ja, ja, der größte See Ungarns
und Mitteleuropas, wie es im Baedeker steht, wie ein Meer, wunderschön,
finden Sie nicht?“
„Ja, wie die Nordsee.“
„Nein, wie die Ostsee.“
„Ostsee?“

„Das muss der Plattensee sein … Ja, ja, der größte See Ungarns
und Mitteleuropas, wie es im Baedeker steht, wie ein Meer, wunderschön,
finden Sie nicht?“
„Ja, wie die Nordsee.“
„Nein, wie die Ostsee.“
„Ostsee?“

Grenzzaun zwischen Ungarn und Kroatien

„Wir fuhren dann ganz langsam durch das Tor im Zaun mit
Stacheldraht von Ungarn nach Kroatien weiter und Winterberg
schaute dem Zaun und Stacheldraht lange nach.“

Zagreb, Hauptbahnhof

„Wir saßen auf der Bank in der Mitte der Halle. Es war kalt. Ich schaute mir ein paar Tauben an, die zu uns kamen und dachten, wir würden uns mit ihnen etwas teilen. Die grauen Tauben vom Hauptbahnhof von Zagreb. In der Mitte war eine Taube, die nur ein Bein hatte. Winterberg schaute die ganze Zeit nur auf diese eine Taube, auf diese kriegsversehrte Taube von Zagreb, das im Baedeker Agram heißt.“

Sarajevo, Hauptbahnhof

„Wir gingen zum Schalter und Winterberg fragte nach zwei Fahrkarten nach Sarajevo ‚Sarajevo‘«, sagte die Frau verwundert. ‚Yes, Sarajevo.‘ Die Frau schüttelte den Kopf. Sie tippte auf die Tastatur. Und schüttelte wieder den Kopf. ‚No Sarajevo.‘ ‚Wie, no Sarajevo?’ ‚Sarajevo don’t exist.’ Winterberg zeigte ihr das Buch. ‚Sarajevo yes, Sarajevo existiert … Sarajevo ist hier.‘ Er blätterte in seinem Baedeker und zeigte ihr den alten Stadtplan von Sarajevo. ‚Hier ist Sarajevo.‘ ‚Yes, but in the system no Sarajevo. Sarejevo nicht existiert. Hier gibt es no Sarajevo. No trains to Sarajevo.’”

Schneetreiben, irgendwo in Böhmen

„Am Morgen schneite es immer mehr. Der Wintersturm bahnte sich den Weg über Mitteleuropa. Über uns. Über Winterberg und mich.“

Historisch-Technisches Museum Peenemünde

Aggregat 4 – V2

„Winterberg ging zur Rakete und wollte sie umarmen. ‚Meine Lenka …‘ Am Bug der Rakete war wirklich eine Zeichnung. Seine Zeichnung. Frau im Mond.“

Bilder: © Jaroslav Rudiš

Textauszüge aus: Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise. Roman © Luchterhand 2019

Jaroslav Rudiš

Jaroslav Rudiš
© Vojtěch Veškrna
Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane „Grand Hotel“, „Die Stille in Prag“, „Vom Ende des Punks in Helsinki“ und „Nationalstraße“, bei btb außerdem „Der Himmel unter Berlin“. „Winterbergs letzte Reise“ ist der erste Roman, den er auf Deutsch geschrieben hat. 2012 erschien bei Voland & Quist seine Graphic Novel „Alois Nebel“ auf Deutsch, illustriert von Jaromír 99. 2012/13 hatte Jaroslav Rudiš die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2014 erhielt Jaroslav Rudiš für sein Werk den Usedomer Literaturpreis, 2018 wurde er mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. Seine Romane „Grand Hotel“ und „Nationalstraße“ sowie „Alois Nebel“ wurden verfilmt.