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SPECIAL zu Jed Rubenfeld »Morddeutung«

Jed Rubenfeld über die Hintergründe zu »Morddeutung«


»Die im Buch beschriebenen Szenen zwischen Freud und Jung – so erstaunlich sie auch scheinen mögen – haben sich tatsächlich abgespielt.«


Liebe Leserin, lieber Leser,

bei jedem historischen Roman stellt sich die Frage, wo die Wahrheit aufhört und die Dichtung anfängt. Morddeutung ist von Anfang bis Ende ein literarisches Werk, dessen Inhalt jedoch zum großen Teil auf Fakten beruht. Der Mord, der im Zentrum des Geschehens steht, ist genauso frei erfunden wie die schändlichen Bemühungen, Freuds berühmte Vorlesungen an der Clark University zu hintertreiben. Fast alles andere basiert auf Tatsachen.

Sigmund Freud besuchte 1909 wirklich die Vereinigten Staaten. Zusammen mit C.G. Jung und Sándor Ferenczi kam er am Abend des 29. August an. Vor seiner Weiterreise nach Clark residierte Freud eine Woche im Hotel Manhattan in New York und entwickelte dabei eine Art Grauen vor Amerika. Während seines Aufenthalts in den USA wurde Freud tatsächlich gebeten, aus dem Stegreif Psychoanalysen zu erstellen, allerdings nie vom Bürgermeister der Stadt New York - zumindest nicht, soweit uns dies bekannt ist.

Der Beschreibung Manhattans im Jahr 1909 liegen gewissenhafte Recherchen zugrunde. Die Architektur, die Straßen, die feine Gesellschaft - praktisch jedes Detail bis hin zur Farbe der Innenverkleidung von Taxis entspricht den Fakten. Allerdings konnte ich mich nicht bei allen New Yorker Einzelheiten an die Realität halten. Beispielsweise war das Hauptleichenschauhaus der Stadt damals im Bellevue Hospital an der Twenty-sixth Street untergebracht, während ich Coroner Hugel - eine erfundene Figur - und sein Leichenschauhaus in ein fiktives Gebäude in der Innenstadt verpflanzt habe. Auch der Senkkasten der Manhattan Bridge wird zwar zum größten Teil wahrheitsgetreu beschrieben, aber im September 1909 war er sicherlich bereits mit Beton gefüllt und besaß nicht mehr die zum Fluss hin offenen Druckkammern zur Schuttentfernung, die im Buch als "Fenster" bezeichnet werden. In Wirklichkeit müssen diese Schächte auch länger gewesen sein, aber ich brauchte die "Fenster" - wer das Buch bereits gelesen hat, weiß natürlich, warum.

Außerdem habe ich bestimmte historische Ereignisse zeitlich nach vorn oder nach hinten verlegt. Eine leichte Zeitverschiebung betrifft den Streik bei der Triangle Shirtwaist Company, die Betty einstellt; dieser Streik fand erst im November 1909 statt (und das berühmte Feuer erst 1911). Ein weiteres Beispiel ist Mrs. Fishs fiktiver Ball im Waldorf-Astoria. In Wirklichkeit begann die Ballsaison 1909 in Manhattan erst später.

Eine stärkere zeitliche Veränderung stellt meine Behandlung des Bruchs zwischen Jung und Freud dar, der sich in Wirklichkeit über einen Zeitraum von drei Jahren hinzog und erst 1912 mit der völligen Trennung endete. Ich habe die relevanten Ereignisse gerafft und einige von ihnen, die in Wirklichkeit anderswo stattfanden, nach Amerika verlegt. Dennoch haben sich die im Buch beschriebenen Szenen zwischen Freud und Jung - so erstaunlich sie auch scheinen mögen - offenbar tatsächlich abgespielt.
Beispielsweise wurden die beiden Männer tatsächlich mitten in einem Streit über das Okkulte (bei dem Freud eine skeptische Position vertrat) von einem lauten und rätselhaften Knall unterbrochen, und Jung behauptete wirklich, dieses Geräusch telekinetisch durch "katalytische Exteriorisation" erzeugt zu haben. Auf Freuds spöttische Reaktion hin prophezeite Jung eine sofortige Wiederholung des Geräuschs, und unerklärlicherweise erfüllte sich seine Vorhersage auch. Diese Episode ereignete sich jedoch nicht im September 1909 in einem Zimmer des Hotel Manhattan, sondern im März desselben Jahres in Freuds Haus in Wien.

Manche Leser fragen sich vielleicht, ob Freud und Jung die ihnen in Morddeutung zugeschriebenen Ansichten tatsächlich so geäußert haben. Die Antwort in fast allen Fällen ist: ja. Ein Großteil des Dialogs zwischen den beiden greift unmittelbar auf ihre Briefe und Schriften sowie andere veröffentlichte Quellen zurück. Beispielsweise sagt Freud im Buch: "Die Befriedigung einer ungebändigten Triebregung ist ungleich intensiver als die eines gezähmten Triebs." Interessierte Leser können die hier paraphrasierte Aussage in Das Unbehagen in der Kultur nachschlagen, Band 14, Seite 437, der gesammelten Werke von Freud.

Wie Freud-Kenner sicherlich bemerkt haben, basiert die Figur Nora auf Dora, der jungen Frau, die in Freuds umstrittenster Fallstudie beschrieben wird. Doras richtiger Name war Ida Bauer. Sie war keine Amerikanerin und wurde auch nicht von Freud in Amerika behandelt, wenngleich sie 1945 in New York starb. Nora ist durchaus nicht nur eine Blaupause von Dora, doch die Grundzüge von Noras Notlage sind alle in Doras Fall zu finden.

Bürgermeister George B. McClellans Versuch, der Tammany Hall die Kontrolle über die Stadtverwaltung zu entreißen, ist bekannt. Und es ist sogar denkbar, dass McClellan eine wichtige Morduntersuchung im September 1909 persönlich überwacht hätte, weil er zu dieser Zeit die gesamte Polizeibehörde der Kontrolle des Bürgermeisteramts unterstellt hatte. Andererseits ist McClellans Interesse an der Nominierung für eine weitere Amtszeit reine Spekulation. In der Öffentlichkeit beharrte er stets darauf, dass er nicht für eine weitere Kandidatur zur Verfügung stand.

Charles Loomis Dana, Bernard Sachs und M. Allen Starr sind historische Gestalten. Sie waren tatsächlich als Triumvirat bekannt und alle drei erbitterte Gegner Freuds und der Psychoanalyse. Ich möchte aber betonen, dass die ruchlosen Taten, die ihnen hier zumindest andeutungsweise unterstellt werden, frei erfunden sind. Smith Ely Jelliffe ist eine weitere historische Figur, die ich ein wenig ausgeschmückt habe. Beispielsweise war Jelliffe nicht reich, und es gibt auch keinen Anlass zu der Vermutung, dass er ein Schürzenjäger war. Erstaunlicherweise entspricht es jedoch den Tatsachen, dass Jelliffe sowohl der psychiatrische Chefexperte für den Mörder Harry Thaw als auch der Verleger von Freuds erstem englischsprachigem Buch war: Selected Papers on Hysteria, übersetzt von Abraham Brill.
Die Berichte über Thaws sadistische Attacken auf seine Gattin und andere junge Frauen sind fast wörtlich aus Originaldokumenten übernommen. Es ist nur eine moderne Legende (die zahllose Male kolportiert wurde), dass Thaws Prozess im Gerichtsgebäude am Jefferson Market stattfand. Er wurde dort zwar zur Anklage vernommen, doch beide Mordverfahren gegen ihn spielten sich im Kriminalgericht an der Centre Street ab.

Die historischen Gestalten, deren Wege sich im New York des Jahres 1909 kreuzten, und die enormen sozialen Veränderungen der damaligen Zeit geben einen ungeheuer reichen Hintergrund für einen Roman ab. Mein Ziel beim Schreiben von Morddeutung war, den Lesern eine schon weit entrückte Ära vor Augen zu führen, die andererseits noch gar nicht so lange zurückliegt. Ich hoffe, Sie finden Gefallen an diesem Ausflug in die Vergangenheit.

Jed Rubenfeld, 2006