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Jehuda Bacon und Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden

Jehuda Bacon und Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden

Vorwort

Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden

Jehuda Bacon bekommt feuchte Augen. Nicht etwa als er über die Hölle von Auschwitz berichtet, da legt er nüchtern Zeugnis ab vom unvorstellbaren Grauen dieses Ortes. Aber als er von den Menschen erzählt, die ihm den Glauben an die Menschheit wiedergegeben haben, da spürt man eine tiefe Rührung, die umso ergreifender ist, wenn man erfährt, dass Jehuda Bacon 12 Jahre lang nicht mehr weinen konnte. Auschwitz hatte seine Tränen versiegen lassen.

Ich hatte noch nie etwas von Jehuda Bacon gehört. Gerade schrieb ich ein Buch, das gegen das Gerede vom angeblich leicht herstellbaren Wohlfühlglück wirkliches Glück gerade in den unvermeidlichen Krisensituationen eines Lebens sucht. Kann man auch im Leid glücklich sein? Es gibt keine leichte Antwort auf diese Frage, vor allem keine theoretische. Da plötzlich sehe ich im Fernsehen Jehuda Bacon, einen kleinen freundlichen weißhaarigen Mann mit ungemein lebendigen Augen und was er sagt ist ein Ereignis. Man könne auch im Leiden einen Sinn erleben und zwar, wenn man so tief erschüttert sei, dass man erlebe, dass jeder Mensch so ist wie man selbst. Liebe erleben und Liebe geben, das lasse einen spüren, was der Mensch sei. Und das sagt ein Mann, der das Schlimmste erlebt hat, was Menschen jemals Menschen angetan haben. Mir ging dieser liebenswürdige alte Mann nicht mehr aus dem Kopf.

Der Zufall wollte es, dass ich wenige Monate später mit 50 jungen Leuten nach Israel fuhr. Kurz vor unserem Abflug teilte uns noch eine Mutter mit, sie habe einige Kontakte in Israel, wenn wir interessiert seien. Als Beispiel nannte sie nur einen Namen: Jehuda Bacon. Sofort war ich elektrisiert. Nie hätte ich gedacht, dass ich tatsächlich Jehuda Bacon persönlich kennenlernen würde. Tagsüber waren wir in Yad Vashem, der Holocaustgedenkstätte, und abends holte ich Jehuda Bacon mit dem Taxi ab. Ich war ziemlich aufgeregt. Doch vom ersten Moment an beruhigte er mich, indem er von einer unmittelbaren Freundlichkeit war, völlig unkompliziert, sofort ganz zugewandt und von einer geradezu anmutigen Bescheidenheit und einer heiteren Demut. So einen Menschen hatte ich noch nie erlebt.

Der Tag in Yad Vashem hatte uns alle aufgewühlt. Da war niemand, der nicht erschüttert war. Doch im Taxi redete Jehuda Bacon nicht von Auschwitz oder von sich, er erzählte mir von Premysl Pitter, einem Mann, der ihn nach dem Krieg in ein Waisenhaus aufgenommen hatte und der all die Kinder dort, Juden und Hitlerjungen mit so viel Liebe umsorgt habe, dass sie wieder Zuversicht schöpften. Schon hatte ich Sorge, dass er von Auschwitz gar nichts erzählen wollte ...

Ich wusste viel zu wenig von Jehuda Bacon. Künstler war er geworden, Kunstprofessor sogar. Seine Bilder hängen in großen Galerien auf der ganzen Welt und sie haben keineswegs alle mit Auschwitz zu tun. Doch richtig angefangen zu malen hatte er im KZ, in Theresienstadt und dann in Auschwitz und seine Bilder aus dem KZ waren so eindrücklich, dass sie im Eichmannprozess in Jerusalem und im Auschwitzprozess in Frankfurt als Beweismittel gewertet wurden. In Yad Vashem hängen Bilder von ihm. In den Rauch, der aus den Krematorien aufsteigt, hat er das Bild seines Vaters gezeichnet, der von ihm weggerissen und in die Gaskammer getrieben wurde. Und ein anderes Bild hat man in Yad Vashem auf eine große Wand projiziert: Da zieht ein Mensch einen anderen aus dem Dunkel ins Licht. Und dieser Mensch war niemand anderes als Premysl Pitter, von dem er mir im Taxi erzählt hatte.

Höflich und fast mit Ehrfurcht empfingen die jungen Leute Jehuda Bacon. Und was dann passierte war höchst merkwürdig. Wir hatten eigentlich einen Gesprächsabend geplant, aber als Jehuda Bacon begann zu erzählen, waren alle so gebannt, dass niemand auf den Gedanken kam, noch Fragen zu stellen. Er begann nicht mit Auschwitz, er begann mit Premysl Pitter und mit den Menschen, die ihn wieder ins menschliche Leben zurückholten. Damit war ein existentielles Fundament gelegt, ein sicherer Ort, von dem aus er uns dann durch sein Leben führte. Er schenkte uns nichts. Wie ein liebevoller Vater nahm er uns bei der Hand und zeigte uns, wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Bösen. Nie war seine Erzählung routiniert, obwohl er sicher schon viele Male über sein Schicksal berichtet hatte, er begegnete uns auf höchst intensive Weise sehr persönlich, dennoch nie belehrend, sondern auf Augenhöhe von Mensch zu Mensch.

Es gibt nicht den Auschwitzüberlebenden. Wer die vielen Berichte liest, der findet da alle denkbaren Temperamente und Reaktionen. Da gibt es natürlich die Verbitterten, denen Auschwitz endgültig das Licht aus dem Leben gelöscht hat, die tief Enttäuschten oder die Hasserfüllten, die nie mehr nach Deutschland fahren wollten, die nie mehr einem Deutschen die Hand geben wollten, aber auch diejenigen, die sich nichts anmerken ließen und schließlich die Versöhnten. Doch diese Tiefe, diese Fürsorge für die Hörer, diese hohe Sensibilität, die ich bei Jehuda Bacon erlebte, das war etwas ganz Besonderes. Vielleicht lag es daran, dass er Künstler ist, oder dass er so eindrucksvollen Menschen begegnet ist oder auch dass er so gerne und mit Begeisterung Lehrer an der Jerusalemer Bezalel-Akademie gewesen ist. Jedenfalls war sofort klar, dass wir hier etwas ganz Kostbares erlebten, was wir nie vergessen würden.

Bei der Rückfahrt im Taxi fragte ich ihn, ob es denn ein ausführlicheres Buch über sein Leben auf deutsch gebe. Nein, meinte er fröhlich. Und als ich ihn fragte, ob er denn zu einem Gesprächsbuch bereit wäre, sagte er sofort zu. Am nächsten Tag besprach ich mit meinem Verlag den Vertrag und im Januar 2016 flog ich mit meiner Tochter Antonia, die die Ton- und Filmaufnahmen machte, nach Jerusalem, um das Projekt umzusetzen. Vier Tage trafen wir uns in der Nähe seiner Wohnung im Leo-Baeck-Institut und redeten insgesamt über 14 Stunden miteinander. Er kam immer alleine zu Fuß, er wollte nicht abgeholt werden und er grüßte uns schon fröhlich am Fenster, bevor er das Haus betrat. Am letzten Tag führte er uns noch durch Yad Vashem. Bei den Gesprächen hatte er ein unglaubliches Durchhaltevermögen. Immer wieder machte ich den Vorschlag, eine Pause einzulegen. Aber er meinte fröhlich, das sei nicht nötig, wenn ich aber eine Pause bräuchte, sei das kein Problem. So sprach er höchst lebendig, gestenreich und anschaulich vier bis fünf Stunden lang ohne Pause. Bei Fragen reagierte er nie ungeduldig, überhaupt war er von einer berührenden Herzlichkeit und Höflichkeit, dennoch nie förmlich und immer voller Witz und Humor. Nicht dass er den Ernst von Auschwitz überspielte, im Gegenteil: Dadurch dass er so rückhaltlos offen war, berührte mich das Grauen, das dieser so liebenswürdige Mensch, der da vor mir saß, erleiden musste, noch viel tiefer.

Ich habe viel über den Holocaust und über Auschwitz gelesen, ich habe alles recherchiert, was ich über das Leben von Jehuda Bacon finden konnte, aber die persönliche Begegnung mit ihm war wirklich etwas Einzigartiges. Ich hoffe, dass das in diesem Buch auch dem Leser spürbar wird.

Und dann passierte noch etwas Merkwürdiges. Wir hatten die Gespräche aufgenommen und dann abschreiben lassen. Doch das Ergebnis war irritierend. Viele Sätze waren fragmentiert und bei der Lektüre nur schwer verständlich. Schon kam der Gedanke auf, diese Texte zu paraphrasieren. Als ich mich dann aber gründlich mit der Abschrift befasste, stellte ich etwas Erstaunliches fest: Man musste die Fragmente nur richtig zusammensetzen und schon zeigte sich ein lebendiger, berührender und manchmal sogar poetischer Text. Das Ergebnis dieser Restaurationsarbeit ist so sehr dem authentischen Text von Jehuda Bacon verpflichtet, dass wir, wenn es verständlich blieb, auch seine sprachlichen Eigenheiten beibehalten haben, den liebenswürdigen böhmisch-jiddischen Tonfall, vor allem aber immer wieder das Oszillieren zwischen Präsens und Vergangenheit. Denn man konnte geradezu sehen, wie ihm die schmerzlichen und ergreifenden Ereignisse der Vergangenheit beim Erzählen immer wieder fast sichtbare Gegenwart wurden.

Dieses Buch ist kein Buch über Auschwitz, da gibt es schon viele eindrucksvolle Berichte. Dieses Buch bringt die Weisheit eines Menschen zur Sprache, der Entsetzliches erlebt hat, aber darunter nicht zerbrochen ist. Bevor einer seiner Lehrer nach Auschwitz deportiert wurde, erzählte er seinen Schülern davon,dass es in jedem Menschen einen unauslöschlichen Funken gebe. An diesen Funken erinnerte er sich, als er selbst nach Auschwitz kam. Und diesen Funken hat er in seinem Leben durch seine ganze Existenz zum Leuchten gebracht.

Seit ich Jehuda Bacon begegnet bin, lebe ich anders, mein Leben ist ein bisschen heller geworden. Nicht dass ich mich nicht mehr über mich oder andere ärgere. Aber ich muss manchmal über all den alltäglichen Kleinkram lachen, der einen gefangen nimmt. Und dann geht es mir besser. Vor allem aber habe ich in kurzer Zeit unglaublich viel über die Menschen und das Leben gelernt. Dass auch viele andere Menschen diese Erfahrung machen können, dafür gibt es jetzt dieses Buch.
Ich danke Jens Oertel, dem Vertrauten Jehuda Bacons, dass er dieses Buch gefördert hat. Vor allem aber danke ich Jehuda Bacon für seine Zeit, seine Zuneigung und sein Zeugnis.

Dr. Manfred Lütz