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Värmdö
Tony Catalhöyük mochte seinen Job, mehr aber auch nicht. Eigentlich hatte er Polizist werden wollen, doch dann war er zweimal durch die Aufnahmeprüfung gerasselt. Zu Unrecht, wie er fand. Er sah und hörte perfekt, die physischen Tests hatte er problemlos gemeistert. Eine achtzig Kilo schwere Puppe im Prüfungsraum über den Linoleumfußboden ziehen? Ein Witz war das gewesen! Er hatte keine schwerwiegenden Gesundheitsprobleme, sein Abschlusszeugnis war in Ordnung, und vorbestraft war er auch nicht. Nicht einmal Drogen hatte er genommen, damals als seine Kumpels von der Schule kiffen sogar interessanter fanden, als Mädchen aufreißen.
Aber die Psychotests, die hatten ihn in die Scheiße geritten. Angeblich ließ seine Persönlichkeitsentwicklung zu wünschen übrig, was sich möglicherweise negativ auswirkte, da er sich nicht als Teil des Ganzen begriff. Angeblich war er ein Einzelkämpfer. Als er bei der Prüfungskommission anrief, hatten sie ihn mit einer Mitarbeiterin verbunden, die den ganzen Scheiß einfach wiederholte, der im Bericht gestanden hatte, wieder und wieder. Tony ließ sich nicht abwimmeln, machte Druck. Sagte: »Wenn Sie mir nicht gleich mit einem anständigen Grund kommen, explodiere ich hier auf der Stelle, und zwar gewaltig.« Schließlich hatte die Prüfungstussi gemeint: »Abgesehen von dem, was ich schon gesagt habe, kann ich nun noch hinzufügen, dass Sie anscheinend ernsthafte Probleme in der Zusammenarbeit mit anderen haben.« Und das war jetzt echt kompletter Bullshit. Tony hatte sein halbes Leben Mannschaftssportarten betrieben, bevor er dann mit Submission Wrestling anfing. Klar konnte er Team, klar konnte er in einer Gruppe funktionieren. Aber diese verdammten Psychotussen mit ihren Tests und Fragen wollten einfach nicht, dass er auf die Polizeihochschule kam. Wollten nicht, dass er etwas beitrug zum Ganzen. Er hatte keinen Schimmer, warum.

Der Himmel hellte sich langsam auf, aber der Wald um ihn herum war immer noch dunkel. Er fuhr ein gutes Stück schneller als erlaubt, was seine Chefs insgeheim billigten, zumindest nachts, auch wenn sie es natürlich nie offiziell sagten. »Wir können doch nicht auf den Straßen rumtrödeln«, meinten sie. »Wir müssen entweder in der Zentrale sein oder bei den Kunden, da werden wir gebraucht. Und die Menschen schätzen es, dass wir schnell zu ihnen kommen, auch wenn wir eigentlich nur bessere Hausmeister in Uniform sind.«
Tony hasste diese Bezeichnung: Hausmeister in Uniform. Er war kein Hausmeister – er war einer, der den Bösen was auf die Finger gab, genau wie ein Polizist, der er eines Tages auch sein würde.
Der Alarm war vor ungefähr fünfzehn Minuten eingegangen, und zwar aus einem Haus in den Wäldern um Ängsvik im Norden der Insel Värmdö. Die Anlage meldete Stromausfall, wobei der Strom nach ungefähr einer Minute wieder eingeschaltet worden war. Auf der Straße herrschte kaum Verkehr, und laut seinem Kollegen Robin waren hier die Blitzer nicht aktiv. Außerdem kannte Tony die Strecke, und dank seines Navis kam er zügig voran.
Ohne Tempo rauszunehmen, bog er bei einem Haus rechts auf eine kleinere Straße ab. Diese Gegend kannte er zwar nicht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihm einer entgegenkam, war gleich null. Laut Karte gab es hier so gut wie keine Häuser.
Jetzt waren es nur noch vierhundert Meter bis zum Haus. Der Wald stand wie eine dunkle Mauer links und rechts am Straßenrand. Hinter einem großen Gebüsch weiter vorne sah er etwas im Straßengraben. Ein Auto. Anscheinend hatte jemand auf der rechten Seite geparkt. Sollte er anhalten und nachschauen, ob etwas passiert war? Nein, besser nicht, der Alarm musste unabhängig vom Wetter und der Lage des Hauses binnen fünfundzwanzig Minuten abgeklärt werden, so die Kundengarantie.
Der Kies auf dem Vorplatz knirschte, als er in die Einfahrt bog. Das rot gestrichene Haus mit den weißen Ecken erinnerte ihn an die Fußballfreizeit, die er als Kind besucht hatte. Fünf Sommer lang waren sein Bruder und er in den ersten beiden Ferienwochen nach Väddö im äußeren Schärengarten rausgefahren, hatten Fußball gespielt und in roten Holzhäuschen geschlafen. Sie stammten aus Fisksätra, und ihre Eltern hatten keine große Lust gehabt, sich von dort wegzubewegen. Was übrigens mit ein Grund dafür war, warum er gern auf Värmdö arbeitete: wenn die gegen Einbruch gesicherten Hütten nach irgendwelchen Meldungen, die sich in neunzig Prozent aller Fälle als falscher Alarm herausstellten, kontrolliert werden mussten, befiel ihn oft dasselbe Gefühl wie damals in diesen Fußball-Sommern.

Weiter hinten auf dem Grundstück gab es einen Carport, Autos konnte er allerdings keine entdecken.
Kein Alarm. Hat der Besitzer bestimmt schon abgestellt, dachte Tony, das war meistens so. Von der Zentrale aus hatte es auch einen Kontrollanruf gegeben, aber es war niemand rangegangen, und auch das war nicht ungewöhnlich. Diese Sorte Alarm hatte meist mit einem Stromausfall zu tun, und wenn es mitten in der Nacht passierte, schliefen die Kunden in der Regel einfach weiter.
Doch hier war es irgendwie zu still. Als würde alles mit angehaltenem Atem auf ihn warten. Miese Vibes. Er griff zu seinem Handy und wählte noch einmal die Nummer des Kunden. Es klingelte, aber niemand ging ran.
Die Haustür war gelb gestrichen und hatte oben ein kleines Fenster. Drinnen war alles dunkel. Tony drückte auf die Klingel, ein sanftes Läuten erklang.
Auf der Veranda stand ein Paar Stiefel, und auf einem Stuhl konnte er einen Stapel mit Sitzpolstern erkennen, die wahrscheinlich bei besserem Wetter in einem Boot oder auf Gartenmöbeln lagen. Niemand öffnete, er drückte wieder auf die Klingel. Diesmal noch länger.
Er wusste, was in einer solchen Situation zu tun war. SP, die Standardprozedur, war angesagt. Inaugenscheinnahme des Gebäudes von außen, Kontrolle der Gegebenheiten. Dokumentation. Meldung an die Zentrale.
Verdächtige Autos, ins feuchte Gras geworfene Einbruchswerkzeuge, zerstörte Sicherungskästen. Aufgebrochene Türen, Lehmspuren auf der Terrasse, kaputte Fenster.
Das waren so die Sachen, nach denen er Ausschau halten sollte.

Sein Blick fiel auf eine typische Quelle für einen falschen Alarm – eines der Fenster im Untergeschoss stand einen Spaltbreit offen. Das vergaßen die Kunden oft zu schließen, so dass es aufwehte. Aber hier hatte es ja wegen Stromausfalls Alarm gegeben und nicht, weil ein Fenster offen stand.
Tony ging hinüber, das Gras stand halbhoch, und seine Springerstiefel wurden nass, was aber letztlich egal war, die hielten alles aus. Das Zimmer drinnen: dunkel.
Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um hineinzuschauen, entdeckte er, dass in beide Scheiben des Doppelfensters ein kreisrundes Loch geschnitten worden war. Eine klassische, aber durchaus verfeinerte Einbruchstechnik, die er erst zweimal zuvor gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte man mit einem Glasschneider um einen Saugpfropfen herum geschnitten, um dann die kreisförmigen Stücke einfach he rauszuheben, die Hand hineinzustecken und den Fenstergriff zu öffnen.
Das hier war also offenkundig kein falscher Alarm. Jemand hatte versucht, den Strom zu kappen, um die Sensoren im Haus auszuschalten, woraufhin die automatische Meldung an die Zentrale rausgegangen war. Aber dieser Kunde besaß einen sogenannten Sabotage-Alarm, und genau so sollte das auch funktionieren. Tonys Puls stieg.
Er entfernte sich ein paar Meter von dem Haus und rief die Zentrale an, um zu berichten, was er entdeckt hatte. Hier handelte es sich definitiv um einen Einbruch.
»Noch im Gang oder abgeschlossen?«, fragte Robin, der diese Nacht in der Zentrale Dienst tat.
»Weiß nicht. Könnte noch jemand drin sein, der grad das Haus ausräumt.«
»Schon klar. Ist der Kunde zu Hause?«
»Keine Ahnung, ist nicht aufgetaucht, obwohl ich wie der übelste Stalker geklingelt habe.«
Tony schob das Handy ins Holster und ging ums Haus herum zur Eingangstür.
Sie bekamen immer mehr Einbruchsmeldungen, obwohl die Leute eigentlich zu Hause waren. Meist stiegen die Täter im Obergeschoss ein, weil es da oft keine Sensoren gab. Heimtückische, listige Parasiten. Das hatten die armen Kunden nicht verdient.
Tony beschloss, der Sache hier, sollte sie denn immer noch laufen, ein Ende zu setzen.
Nun stand er wieder vor der Haustür. Packte die Klinke und stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war.
Betrat das Haus.
Jacketts und Mäntel, die in der kleinen Diele am Haken hingen, flatterten, als er die Tür aufschob, und es roch nach altem Holz und offenem Kamin.
Er nestelte seine Taschenlampe heraus. Das Licht fiel auf etwas Unförmiges auf dem Boden, sah aus wie eine Tasche.
Rechts ging eine Treppe zum oberen Stockwerk. Direkt vor ihm war die Küche zu erkennen. Tony griff zu seinem Teleskopschlagstock und hielt ihn fest in der Hand. Schwarzer, gehärteter Stahl, die längste Variante: sechsundzwanzig Inch. Im Training übten sie damit oft Verteidigung und Angriff. Dienstlich hatte er ihn noch nie anwenden müssen, aber durchaus ein paarmal in Bereitschaft gehabt, als es um irgendwelche Junkies ging, die versuchten, die Heimkinoanlage eines armen Villenbesitzers aus dem Fenster zu hieven oder seine Alkoholvorräte auszusaufen. Egal – irgendwann ist immer das erste Mal, dachte er.
Er tat einen Schritt nach vorne. Hörte das Knirschen von zerbrochenem Glas. Im Schein der Taschenlampe: kleine Glasscherben auf dem Dielenfußboden.
Die Küche wirkte sauber und aufgeräumt. Da, beim Esstisch, das offene Fenster. An der Wand eine große runde Uhr. Viertel nach vier.
Wohnzimmer und Küche ein großer Raum.
Nicht gerade viele Möbelstücke.
Ein Sessel. Ein Couchtisch.
Hinter dem Couchtisch lag etwas.
Er trat näher heran.
Ein Körper.
Tony leuchtete.
Es war das Grässlichste, was er jemals gesehen hatte.
Er fühlte die Übelkeit ruckartig in sich hochsteigen.
Der Kopf. Gesichtslos. Jemand hatte diesem Menschen den Schädel weggeschossen.
Seine Kotze platschte auf den Teppich.
Er sah zu Boden.
Überall Blut.

Jens Lapidus
© Pierre Björk

Jens Lapidus

Jens Lapidus (geboren 1974) hat eine der erstaunlichsten Karrieren Schwedens inne. Er ist nicht nur einer der angesehensten Strafverteidiger des Landes, sondern auch einer der erfolgreichsten Autoren. Durch seine anwaltliche Tätigkeit verfügt er über mannigfaltige Kontakte zu Schwerverbrechern und genuine Einblicke in die schwedische Unterwelt, die Normalsterblichen normalerweise verwehrt bleiben. Die Authentiziät, Schnelligkeit und Direktheit seiner Romane suchen ihresgleichen. Seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt, vielfach preisgekrönt und mehrfach verfilmt.