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Fünf

Im Strafgericht Moabit darf seit Jahren nicht mehr geraucht werden. In den Fluren hängen gelbe Zettel auf den Kacheln: »Raucherbereich für Besucher auf dem Galgenhof«. Der Mandant raucht trotzdem. Er steht hinter dem Saaleingang auf der Treppe, die zu den Gefängniszellen führt. Ein Wachtmeister regt sich auf und verbietet es ihm. Der Mandant raucht weiter, er bleibt vollkommen ruhig. Seit sechs Monaten wartet er in Untersuchungshaft auf seinen Prozess wegen Totschlages. Er sieht den Wachtmeister an, zuckt mit den Schultern und sagt: »Was wollen Sie machen? Mich verhaften?«
Am 22. April 1947 geht Wehmeyer mit einem Bekannten von Berlin aus in Richtung Norden. In der zerstörten Hauptstadt gibt es wenig zu essen, die beiden Männer haben Hunger. Sie wollen Kleidungsstücke gegen Kartoffeln tauschen. Wehmeyer hat ein Paar Stiefel und eine Hose dabei. »Hamstergeschäfte« nannte man das damals, oft waren sie die einzige Möglichkeit zu überleben.
Wehmeyer ist 23 Jahre alt. Er lebt mit seiner Mutter und seinen Schwestern in einem ausrangierten S-Bahn-Wagen. Sein Vater starb kurz nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft. Wehmeyer begann eine Lehre als Schlosser, stahl einen Meißel und wurde entlassen. Danach schlug er sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten durch, eine unsichere Existenz ohne Zukunft.
Auf dem Weg lernen die beiden Männer eine Frau kennen. Sie ist 61 Jahre alt und auch zum Tauschen aufs Land gefahren. Am Abend treffen sie sich zufällig wieder. Wehmeyer hatte kein Glück, er wurde seine Sachen nicht los. Die Frau war erfolgreicher, sie besitzt nun einen Sack Kartoffeln, 20 Kilogramm, ein kleines Vermögen in dieser Zeit. Zu dritt laden sie den Sack auf einen Handkarren und gehen zurück nach Berlin. Es wird dunkel. Plötzlich schlägt Wehmeyer mit der Faust zu, ohne Vorwarnung, er trifft den Hals der Frau, ihr Kehlkopf bricht, sie stürzt zu Boden. Er fesselt ihre Hände auf dem Rücken, stopft ihr ein Taschentuch in den Mund, reißt ihren Schlüpfer herunter und vergewaltigt sie. Sein Bekannter sieht zu, er greift nicht ein.
Später wird er sagen, er habe Angst vor Wehmeyer gehabt. Der Knebel nimmt der Frau die Luft, sie erstickt, während sie von Wehmeyer vergewaltigt wird. Nachdem Wehmeyer fertig ist, nimmt er die Kartoffeln der Toten an sich.
Fünf Tage später wird die Leiche der Frau auf einem Acker gefunden. Wehmeyer und sein Bekannter können schnell ermittelt werden. Auf der Polizeistation beschuldigen sie sich gegenseitig. Ein Gutachter des Gerichts befragt Wehmeyer und notiert später, der junge Mann sei schon immer »gefühlskalt und rücksichtslos« gewesen.
Der Prozess dauert nur einen Tag. Der Staatsanwalt verweist auf eine Vorstrafe wegen Raubes: Wehmeyer hatte einer Frau die Handtasche entrissen, damals war er 16 Jahre alt gewesen.
Die Richter sind sich schnell einig. Im Urteil heißt es: »Der Angeklagte hat sich durch seine grauenvolle Tat aus dem Kreise der gesitteten Menschheit ausgeschlossen und sein Recht zum Leben verwirkt.«
So klang das damals, zwei Jahre nach Kriegsende. Wehmeyers Anwalt versucht ihn zu retten, er stellt Anträge, will Zeit gewinnen, er unternimmt alles, was ihm möglich ist. Vergebens. Die Richter wollen nichts mehr hören, sie folgen keinem einzigen Antrag. Sie wissen, dass sie die Todesstrafe nicht mehr lange vollstrecken lassen können.
Am 11. Mai 1949 trennt das Fallbeil Wehmeyers Kopf vom Rumpf. Es ist die letzte Hinrichtung in Moabit. Zwölf Tage später tritt das Grundgesetz in Kraft, die Todesstrafe ist abgeschafft.
In der Nacht vor der Exekution soll Wehmeyer in seiner Zelle viel geraucht haben.

Sechs

1973 wird eine von Joseph Beuys mit Mullbinden und Heftpflastern versehene Badewanne von zwei Mitgliedern eines SPD-Ortsvereins gereinigt, um darin Gläser zu spülen. Der Schadensersatz für das zerstörte Kunstwerk beträgt 40 000 DM.
1974 lässt ein Hersteller von Haushaltsreinigern einen Werbefilm produzieren, in dem zwei Putzfrauen in einem Museum für moderne Kunst eine Badewanne schrubben.
1986 wird eine »Fettecke« von Joseph Beuys in der Düsseldorfer Kunstakademie vom Hausmeister in den Müllcontainer geworfen. Der Schadensersatz beträgt wieder 40 000 DM.
2014 werden die Überreste dieser »Fettecke« von drei Künstlern zu Schnaps verarbeitet. Die Künstler probieren den Alkohol, er schmecke wie Parmesankäse, sagen sie. Der Rest des Destillats wird in einer Glasflasche ausgestellt.
2011 wird in einem Museum in Dortmund ein Trog von Martin Kippenberger von einer Putzfrau gründlich gesäubert. Über die Höhe des Schadensersatzes ist nichts bekannt geworden.

Ferdinand von Schirach
© Peter Rigaud/Shotview

Ferdinand von Schirach

Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Die Erzählungsbände »Verbrechen« und »Schuld« und die Romane »Der Fall Collini« und »Tabu« wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Sein Theaterstück »Terror« zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm im Herbst 2017 unter dem Titel »Die Herzlichkeit der Vernunft« ein Band mit Gesprächen mit Alexander Kluge.

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