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Konstantin Wecker: Dann denkt mit dem Herzen

Warum bin ich mehr als ein halbes Jahrhundert lang lieber in Gedichte und Musik eingetaucht als in realpolitische Ideen oder Ideologien? Ich habe mir darüber nie Rechenschaft abgelegt. Erst jetzt, im Alter, beschäftigt mich rückblickend diese Frage. Vielleicht hat es ja mit einem Satz Fjodor Michailowitsch Dostojewskis zu tun, den ich erst jetzt zu verstehen beginne: »Mensch unter Menschen zu sein und es auch immer zu bleiben, das ist der Sinn des Lebens, das ist seine Aufgabe.«

Mensch unter Menschen sein – kein besserer Mensch unter schlechteren, kein reicherer unter ärmeren, kein schönerer unter weniger schönen, nein: Mensch unter Menschen. Ist das nicht der wirksamste Protest gegen den in unserem Wirtschaftssystem forcierten Leistungsdruck, den Selbstoptimierungswahn, der über Medien und Ratgeberbücher nach und nach unsere Gehirne kolonialisiert? Nichts Besonderes sein zu wollen, damit allein könnte man sich wohl heute von der Masse der Überindividualisierten absondern. Und ist nicht gerade das das fatale »Alleinstellungsmerkmal« rechtsgerichteter Ideologien, dass sie immer und überall Unterschiede zu konstruieren versuchen: zwischen »Leistungsträgern« und »Minderleistern«, zwischen dunkel- und hellhäutigen Menschen, zwischen dem »Eigenen « und dem »Fremden«? Und die überlegene Gruppe ist – man ahnt es – dabei immer die eigene, wie zunehmend lauttönend in Kneipen, im Wohnzimmer, auf Straßen und Plätzen beschworen wird. [...]

Es sind kalte Zeiten, in denen das Mitgefühl obsolet wird. Sogar das Gute, das Gut-sein-Wollen selbst wird Gegenstand von Hohn und Anfeindungen. So brüchig Moralvorstellungen auch sein mögen, Güte kann noch immer ein Orientierungsmaßstab sein, der trägt, wo neue Herausforderungen an uns herangetragen werden. Daher stört die Güte diejenigen, die von ihrem Fehlen profitieren, und der Vorwurf, ein »Gutmensch« zu sein, wird gegen engagierte Menschen wie ein Giftpfeil abgeschossen. Immer wieder musste ich als Reaktion auf meine öffentlichen Äußerungen zur Flüchtlingsfrage hören: Wer zu viel Mitgefühl hat, hat keinen Verstand. Aber war es denn zu viel Mitgefühl, was uns in diese desaströse Situation gebracht hat? Oder nicht vielmehr der himmelschreiende Mangel daran? [...]

Das vorliegende Buch ist eine Streitschrift, aber kein politisches Pamphlet. Es ruft zur Herzlichkeit auf, einer Herzlichkeit, die nicht erst eine Ideologie oder die so genannte realpolitische Vernunft befragen muss, bevor sie zur Tat wird. So wichtig eine realistische Lebenseinstellung sein mag, sie darf nicht zum Käfig werden, in den wir unsere unmittelbaren Impulse, Menschen zu verstehen, zu schützen und zu helfen, einsperren lassen. Liebevolles Sprechen und Handeln muss sich ungestört von der Vorzensur vernünftelnder Machbarkeitserwägungen entfalten können. [...]


Kurz vor Weihnachten bat ich darum, über Facebook eine wunderschöne Meldung zu verbreiten: Bei einem Angriff der islamistischen al-Shabaab-Miliz auf einen Bus im Nordosten Kenias haben die Angreifer die Passagiere des Busses aufgefordert, sich nach Christen und Muslimen aufzuteilen, um die Christen anschließend zu töten. Die Muslime aber weigerten sich, die Christen auszuliefern, sagte der kenianische Innenminister Joseph Nkaissery. (Quelle: Süddeutsche Zeitung) CNN zufolge waren etwa 100 Menschen in dem Bus. Ein Zeuge berichtet, dass die Muslime den Christen geholfen hätten, sich auf dem Dach und im Bus zu verstecken. Christlichen Frauen seien Hijabs, also muslimische Verschleierungen, gegeben worden, damit die Terroristen sie für Musliminnen halten. Die Passagiere des Busses waren mehrheitlich Frauen. Sie sollen die Terroristen aufgefordert haben, sie entweder alle zu töten oder zu verschwinden. Die Terroristen zogen sich daraufhin zurück. »Diese Muslime haben eine sehr wichtige Botschaft der Einheit ausgesandt, indem sie sagten, wir sind alle Kenianer und wir können nicht geteilt werden vom Menschen«, sagte Nkaissery. So ist es, und meine aufrichtige Bewunderung gilt diesen 100 Menschen. Von ihnen dürfen wir lernen. Schützen wir bitte ebenso mutig die Muslime in unserem Land vor den Baseballschläger schwingenden Feiglingen, vor den brandstiftenden Rassisten, vor all jenen, die unsere »christliche Kultur« bewahren wollen und dabei so wenig Ahnung haben von Kultur wie ein Rassist vom Menschsein.

Über dreieinhalb Millionen Menschen erreichte ich mit dieser Geschichte und über dreißigtausend likten diesen Beitrag. Aber in vielen Kommentaren wurde ich beschimpft, weil ich diese »rührselige Story«, diesen »Kitsch« weiterverbreiten würde, da ja sowieso alles nur ein Produkt der Lügenpresse sei. Es schmerzt, lesen zu müssen, wie einige Menschen sich so in ihr nationalistisches Schneckenhaus verkrochen haben, dass nichts mitfühlend Menschliches sie mehr erreichen kann. Ihre Angst und ihr Misstrauen haben ihnen die Sicht auf die Welt geschwärzt, als hätten sie Tag und Nacht eine dunkle Brille aufgesetzt. Solche Menschen werden durch meine Texte kaum zu erreichen kann. Aber vielleicht kann dieses Büchlein helfen, jene zu stärken, die den Impuls zum menschlichen Handeln in sich spüren und die sich manchmal hilflos-traurig fühlen, angesichts der Erosion scheinbar selbstverständlicher Werte überall in ihrem Umfeld. Wenn dann feige Nazibanden Unterkünfte brandschatzen, wird es immer genügend von uns geben, um uns ihnen entschlossen entgegenzustellen:

»Nicht in unserem Namen! Eure Zeit ist vorbei und eure Ideologie gehört auf die Müllhalde der Geschichte.«


Konstantin Wecker

Dann denkt mit dem Herzen

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