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Interview mit Leonie Swann zu "Dunkelsprung"

"Flöhe sind eine Herausforderung" - Leonie Swann im Interview

Leonie Swann
© Mark Bassett
Ihr erstes Buch „Glennkill“ erschien 2005 und wurde auf Anhieb zu einem Bestseller. Der Krimi beruht auf dem originellen Einfall, eine Herde Schafe in einem Mordfall ermitteln zu lassen und die Detektivarbeit aus Schafsperspektive zu schildern. In Ihrem zweiten Buch, dem Thriller „Garou“, bescherten Sie den Lesern ein Wiedersehen mit der liebgewonnenen Schafherde, doch kündigten Sie damals an, Sie würden sich nun von den Schafen verabschieden und in Ihrem nächsten Buch Neues ausprobieren. Allerdings spielen auch in „Dunkelsprung“ Tiere eine zentrale Rolle, diesmal handelt es sich um eine Truppe Insekten, Flöhe genau genommen, die in einem Flohzirkus als Artisten auftreten. Was hat Sie an den kleinen Insekten so fasziniert, dass Sie sie als tierische Hauptakteure für das neue Buch auswählten?

Alles begann bei einer Fahrt über Land. Ich saß im Auto und hatte das Radio an. Und auf einmal hörte ich zwischen all den anderen, seriösen BBC Nachrichten diese Meldung von einer erfrorenen Flohzirkustruppe und ihrem Zirkusdirektor, der nun verzweifelt nach Ersatzflöhen suchte. Es war einer dieser magischen Momente, in denen uns der Alltag damit überrascht, dass er alles andere als banal ist. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon an einer Story mit Märchenelementen und wusste sofort, dass Flöhe die perfekte Ergänzung zu meinen Phantasiewesen sein würden – so real, und trotzdem irgendwie ungreifbar und mit diesen erstaunlichen „Superkräften“ ausgestattet. Und natürlich ist da auch noch das wunderbare, schräge, nostalgische Phänomen des Flohzirkus. Wie Schafe haben auch Flöhe seit Jahrtausenden das Leben der Menschen begleitet und dabei Eingang in Sprache und Literatur gefunden – nur stehen sie unbequemer Weise ganz am anderen Ende der Nahrungskette! In dieser Hinsicht sind Flöhe eine Herausforderung, sie erinnern uns daran, dass wir nicht einfach die Krone der Schöpfung sind, sondern auch ein Tier unter anderen Tieren - und noch dazu ein äußerst wohlschmeckendes! So gesehen eröffnet der Floh uns neue Perspektiven...


Hatten Sie selbst schon einmal die Gelegenheit, einen Flohzirkus zu besuchen, und wo bekommt man solche Vorstellungen heute noch zu sehen?

Als Kind habe ich einmal den Flohzirkus auf dem Münchner Oktoberfest besucht und war gebührend verzaubert. Den Flohzirkus auf der Wiesn gibt es auch heute noch, außerdem fällt mir noch Marco Assmanns reisender Flohzirkus ein. Während meiner Recherche bekam ich leider keine lebenden Flohartisten zu Gesicht. In England habe ich mich mit dem Zoologen und Flohzirkusexperten Dr. Tim Cockerill getroffen. Tim hat eine wunderbare Sammlung antiker Flohzirkusrequisiten, die aber momentan alle auf dem Abstellgleis stehen – Tim sucht händeringend nach Menschenflöhen. Das ist die einzige Flohart, die kräftig genug ist, um diese historischen Apparate erfolgreich zu bedienen.


Flöhe sind nicht die einzigen außergewöhnlichen Akteure in „Dunkelsprung“. Es treten Wesen in Erscheinung, die Mythen, Märchen und Fabeln entstammen, darunter Nixen, ein Drache, eine Schneckenfrau und mehrere Zwitterwesen mit Flügeln, Hörnern und Stacheln. Hat Sie der Werwolf, der in „Garou“ sein Unwesen trieb, auf den Gedanken gebracht, Phantasiegestalten wie selbstverständlich unsere Wirklichkeit bevölkern zu lassen?

Der Werwolf in „Garou“ ist eine Metapher, während die Wesen in Dunkelsprung deutlich über das rein Metaphorische hinausgehen. Mischwesen mit Tierattributen gibt es in allen mir bekannten Kulturen, die Grenze zwischen Mensch und Tier ist etwas, das uns schon immer fasziniert hat. Diese Wesen sind so universell, weil sie etwas beschreiben, das Teil unserer Realität ist, sich mit Worten aber nicht immer einfach ausdrücken lässt. Ich denke, Phantasiewesen bevölkern unsere Wirklichkeit sowieso – wir müssen nur genauer
hingucken...


Wie in „Glennkill“ und „Garou“ geht es auch in „Dunkelsprung“ um Verbrechen, um Detektivarbeit und das Erforschen einer geheimnisvollen Vergangenheit. Vor dem Hintergrund der spannenden, rasanten Handlung setzen Sie sich mit großen Fragen auseinander. Können Sie kurz umreißen, welche Themen dabei im Mittelpunkt stehen und was Sie daran so fasziniert hat?

Hmm, das Umreißen von Themen würde ich eigentlich gerne dem Leser überlassen. Ich schreibe meinem Publikum nur ungern vor, was es sehen soll. Darin liegt für mich der große Zauber beim Lesen und Schreiben: Die Dinge sind nicht einfach fix und fertig im Buch „drin“, sie entstehen erst, wenn sie durch den Leser „herausgelesen“ werden – und dabei entdeckt jeder ein bisschen etwas anderes. Meine Aufgabe sehe ich nicht darin, Themen vorzugeben, sondern Abenteuerdrang und Spieltrieb herauszufordern, Möglichkeiten zu schaffen, Zusammenhänge anzudeuten. Aber natürlich geht es – wie in auch „Glennkill“ und „Garou“ – in gewisser Hinsicht um Perspektiven. Wie sieht die Welt aus, wenn wir unsere festgefügten Identitäten und Vorstellungen einfach einmal hinter uns lassen? Was ist vernünftig – und was verrückt? Wieviel von dem, was wir zu wissen glauben, wissen wir wirklich? Was ist echt? Was wäre, wenn...?


Die Themen werden in verschiedenen Variationen am Schicksal der Hauptfiguren beleuchtet. Das sind der Flohdompteur und Goldschmied Julius Birdwell, der Privatdetektiv Frank Green und der Magier Isaac Fawkes. Gibt es historische oder literarische Persönlichkeiten, auf die diese Figuren zurückgehen?

Julius Birdwell ist frei erfunden (hoffe ich zumindest), Frank Green steht in der Tradition von Chandlers und Hammetts hard-boiled detectives – allerdings auf eine sehr ironische und verdrehte Art. Isaac Fawkes hingegen geht auf eine historische Figur zurück. Der echte Fawkes war ein überaus erfolgreicher Schausteller und Zauberkünstler, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts die feine Gesellschaft Londons begeisterte – meines Wissens nach allerdings ohne magische Hilfe. Im Gegenteil: Fawkes unterschied sich von anderen Magiern seiner Zeit gerade dadurch, dass er den Illusionscharakter seiner Vorstellung betonte und alles Übernatürliche als Humbug betrachtete. Dieser Appell an die Vernunft machte ihn auch für den Adel salonfähig. Fawkes zeigte kunstvolle Automaten und Schlangenmenschen und hatte auch eine gehörnte Frau im Programm.


Zu den Protagonisten zählt auch die schillernde Elizabeth Thorn. Bei der ersten Begegnung mutet sie an wie eine exzentrische, katzenhaft-geschmeidige Frau, später jedoch zeigt sich, dass sie noch viel mehr ist als das. Können Sie etwas über Elizabeth Thorn erzählen und was Sie zu dieser Figur inspiriert hat?

Elizabeth Thorn ist die einzige Hauptfigur, von der man nie eine Innenansicht bekommt. Wir sind darauf angewiesen zu beobachten, zu deuten: Arme, Beine, Mütze, Zunge – Chiffren, fleischgewordene Metaphern. Elizabeth ist eine Figur, der ich mich vor allem ästhetisch annähern wollte. Elegant, wild, unvorhersehbar, ein Wesen zwischen zwei Welten: zu magisch für unsere Realität, zu vernünftig für das Reich der Phantasiewesen. Elizabeth ist sehr furchtlos und damit ein thematisches Gegengewicht zu Green und Julius, die beide mit ihren Ängsten zu kämpfen haben. Ich habe versucht, eine geheimnisvolle, widersprüchliche, interessante Gestalt zu zeichnen – eine Frau, die man vielleicht gerne einmal für eine halbe Stunde sein würde.


Immer wieder gibt es konkrete Hinweise, die die Handlung in der Gegenwart verankern – es wird im Internet gesurft, E-Mails werden verschickt, es gibt Fast-Food-Restaurants, Lifestyle-Magazine und Sportwagen – doch dieser zeitliche Bezug wird durch das Auftreten der Fabelwesen gelockert, und von einem Moment auf den anderen fühlt man sich in eine frühere Zeit versetzt: die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Elizabeth Thorn und der Magier Isaac Fawkes entstammen. Was macht diese Epoche so interessant für Ihre Geschichte?

Das 18. Jahrhundert ist für mich ein Zeitalter, in dem auf einmal vieles möglich war, was vorher kaum gedacht werden durfte. Die Vernunft, die zuvor immer im Schatten von Tradition und Religion gestanden hatte, war auf einmal philosophischer Mittelpunkt. Das gesamte Denken ist neugierig, experimentell, spielerisch. Da es in meiner Geschichte unter anderem darum geht, wie viel Vernunft vernünftig ist, bietet diese Zeit einen idealen Referenzpunkt. Hinzu kommt die Obsession der Epoche
für Automaten, mechanische Menschen, Tiere, Vögel. Hier sehe ich den Versuch, komplexe Dinge auf das Vernünftige, Vorhersehbare zu reduzieren – Bewegung ohne Motivation. Das Gegenstück hierzu sind die Flöhe, die ganz ohne Vernunft und große Pläne durch blanke Motivation große Sprünge machen.


Julius Birdwell und Frank Green sind Gegenspieler von Isaac Fawkes: Während Fawkes sich in den „Käfig der Vernunft“ flüchtet, vollziehen Birdwell und Green eine Entwicklung, die sie in eine andere Richtung führt. Können Sie etwas mehr darüber erzählen?

Ganz im Sinne seiner Zeit sieht Fawkes die Vernunft als einen Schutz, ein Instrument, das die Welt ordnet und Phantasie, Zauberwesen und das Unbewusste in Schach hält. Für Julius und Green verhält sich die Sache etwas anders. Beiden geht es in gewissem Sinne um
Angstüberwindung: Julius hat Angst vor seiner Umwelt, davor, nicht angepasst genug zu sein, keinen wirklichen Platz zu haben. Greens Angst richtet sich mehr nach innen, es ist eine Angst vor sich selbst, vor der eigenen Vergangenheit. Um diese Angst zu überwinden, müssen beide herausfinden, wer sie wirklich sind. Es geht um die Frage, wie man sich zu sich selbst verhält, wie man auch die dunklen, irrationalen,scheinbar chaotischen Seiten seiner Persönlichkeit annimmt. Hier kann ihnen die Vernunft nur bedingt weiterhelfen, eine breitere, „verrücktere“ Weltsicht ist gefragt. Offen ist eben mehr als nur „nicht ganz dicht“.


Die philosophischen Schriften des 18. Jahrhunderts sind durchdrungen von Metaphern des Lichts. Aufgeklärtes Denken wird als Erleuchtung, als Sieg des Lichts über die Dunkelheit gepriesen. Doch „Dunkelsprung“ zieht dieses Weltverständnis in Zweifel und zeigt seine Schattenseiten. Spricht daraus auch etwas von Ihrer persönlichen Auffassung?

Licht und Dunkel sind natürlich immer eine Frage der Perspektive. Für die Flöhe zum Beispiel ist es umgekehrt: Dunkelheit ist erstrebenswert und Licht ein Problem. Ich versuche eigentlich, nicht allzu viel von meiner persönlichen Auffassung in einem Buch „abzuladen“, sondern stattdessen der Geschichte freien Lauf zu lassen. Und in Dunkelsprung geht es unter anderem darum, wie man mit den Dingen umgeht, die sich nicht einfach mit blanker Rationalität angehen lassen. Jeder kennt solche Dinge: Wer sich vor Spinnen fürchtet, dem ist mit dem bloßen Wissen darum, dass es eine irrationale Furcht ist, noch lange nicht geholfen. Wer noch nie verliebt war, wird dem Gefühl nicht dadurch näherkommen, dass er alle neurologischen Mechanismen dieses Zustands versteht. Unsere Welt gibt sich rational, aber der Alltag sieht oft anders aus. Die meisten Dinge tun wir nicht, weil sie vernünftig sind, sondern aus Frust oder Übermut, Angst oder weil sie sich gut anfühlen. Wenn man das nicht sieht, oder versucht, es als Rationalität zu verkleiden, verpasst man etwas. Vieles von dem, was unser Leben wirklich ausmacht, ist subjektiv, qualitativ, emotional: Erleben. Staunen. Neugier. Furcht. Ich würde diese Dinge nicht „dunkel“ nennen, aber sie sind sicher nicht so perfekt ausgeleuchtet, wie es rationales Denken manchmal gerne hätte. Magische Weltbilder haben zu solchen tieferen Bewusstseinsschichten manchmal einen besseren Zugang.
Mit anderen Worten: Dunkelheit ist eben auch schön und wichtig und hat ihren Platz in der Welt.


„Dunkelsprung“ besteht aus mehreren Handlungssträngen, die kunstvoll ineinander verwoben sind und sich zu einem großen Ganzen fügen. Wie ist es Ihnen gelungen, die Geschichte beim Schreiben auf dieses Ende hin zu lenken?

Wenn ich das nur so genau wüsste! Meiner Erfahrung nach funktioniert eine Geschichte dann am besten, wenn man ihr freien Lauf lässt und gleichzeitig aufmerksam zuhört. Dann lenkt sie sich manchmal wie von selbst, Zusammenhänge entstehen, Dinge reflektieren sich gegenseitig, Themen tauchen auf wie Silberfäden. Auf einmal ist es keine Aneinanderreihung von Szenen mehr, sondern ein Ganzes. Wie genau das geschieht, ist schwer zu durchschauen und fast ein wenig magisch. Viel Arbeit und Handwerk natürlich, trial and error– und dann ein bisschen Zauberei...


Sie leben seit einigen Jahren in England, wo auch die Handlung Ihres Buches angesiedelt ist. Hatte die Umgebung, in der Sie nun leben, einen Einfluss auf die Entstehung Ihrer Geschichte?

Ich bin mit englischer Literatur aufgewachsen: Jane Austen, Charles Dickens, William Thackeray, Wilkie Collins, J.R.R. Tolkien, die Brontës und allen voran natürlich William Shakespeare. Wenn ich heute durch London laufe und all die vertrauten Straßennamensehe, ist es mir manchmal, als liefe ich durch ein Buch – als wäre ich selbst Fiktion. Ein wunderbares Gefühl, das mir sofort gute Laune macht. England ist für mich das Land der Geschichten! Es ist auch ein Land voller Traditionen und Legenden, alter Herrenhäuser und skurriler Museen und Sammlungen. Letzten Endes war es aber wahrscheinlich vor allem die Landschaft mit ihren verwunschenen Heckenrainen, uralten Farmhäusern und üppigem (und oft regennassem) Grün, die eine bleibende Spur in meinem Buch hinterlassen hat. Eine Schneckenspur, eine gekeimte Kastanie, eine Rotbuche – wenn man genau hinsieht, fangen die Dinge auf einmal an, zu erzählen.


Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch und falls ja, können Sie andeuten, worum es darin gehen wird?

Nach einem Buch versuche ich normalerweise, eine Zeit lang frei in der Gegend herumzuschreiben, um an meinem Handwerk zu feilen und zu gucken, was sich dabei so ergibt. Ich kann aber verraten, dass ich mit Julius, Green, Elizabeth und den Flöhen vielleicht noch die eine oder andere Rechnung offen habe...
Interview: Elke Kreil

Dunkelsprung

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