Leseprobe zu »Das geheime Glück«

INHALT: Es ist ein Morgen wie jeder andere, als Robbie neben seiner schlafenden Frau Emily erwacht. Wie immer steht er vor ihr auf und kocht Kaffee. Doch an diesem Morgen schreibt er einen Brief und tut damit etwas, was Emily das Herz brechen wird. Robbie weiß: Er muss diesen Preis bezahlen, um ihre Liebe zu schützen. Denn niemand darf erfahren, welches Geheimnis Emily und er seit fünf Jahrzehnten hüten …

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September 2016: Clyde Bay, Maine

Als Robbie erwachte, war es draußen noch dunkel. Sie hatten bei offenen Fenstern geschlafen, und er hörte, wie die Wellen an die Felsen schlugen. Das Geräusch war immer da, weshalb er es kaum noch wahrnahm, doch an jenem Morgen hörte er es. Ebenso wie Emilys Atemzüge. Einen Moment blieb er im Bett liegen, lauschte auf ihren Atem und das Meer, stetig und vertraut, als ob beides ewig so weitergehen müsste.

Emily hatte den Po an seine Hüften gekuschelt und ihre Füße um seine geschlungen. Meist drehte er sich morgens auf die Seite und legte den Arm um ihre Taille, dann schmiegte sie sich im Schlaf an ihn, und sie blieben eine Weile so liegen. So lange, dass er noch die Wärme ihres Körpers an seinem spürte, wenn er schließlich aufstand und sie schlafend im Bett zurückließ und ihn der Duft ihres Haars bei seinem üblichen Morgenprogramm begleitete.

Wenn alles so bliebe, wie es war, und sie so weitermachten wie bisher, würde sich diese eine Sache niemals ändern, da war er sich sicher. Nicht der Rhythmus ihres Schlafes und nicht die Art, wie sie sich berührten. So hatten sie seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht vor vierundfünfzig Jahren zusammen geschlafen, und seither bereute er jede einzelne Nacht, die sie nicht im selben Bett verbrachten. Robbie wusste, dass sich sein Körper selbst dann noch an Emily erinnern würde, wenn er so lange lebte, dass sein Kopf sie irgendwann vergessen hatte.

Allein für diese Momente der Berührung lohnte es sich zu leben. Ihm selbst hätte das gereicht. Aber er musste an Emily denken.

Seit jenem Tag vor über fünfzig Jahren, an dem er sie kennenlernte, hatte er alles immer nur für Emily getan, und dies war das Letzte, das er für sie tun musste. Jetzt, solange er es noch konnte.

Robbie löste sich von Emily, ohne sie aufzuwecken, und setzte sich auf die Bettkante. Er war jetzt achtzig Jahre alt und körperlich in ziemlich guter Verfassung – abgesehen von einer alten Oberschenkelverletzung, die sich bei Regenwetter meldete. Auch im Spiegel machte er dieser Tage noch halbwegs eine gute Figur, obwohl sein Haar inzwischen fast völlig ergraut war und er die ledrige, alterslose Haut eines Mannes besaß, der sich Zeit seines Lebens überwiegend draußen aufgehalten hat. Vermutlich würde sein Körper es noch zehn, fünfzehn Jahre machen. Salzluft konserviert, sagte man, wenn von alten Seeleuten die Rede war.

Ohne groß nachzudenken zog er sich im Halbdunkel an, so wie fast jeden Morgen, außer an manchen Sonntagen. Dann ging er die Treppe hinunter. Er ließ die Hand über das Geländer gleiten, das er selbst aus einem einzigen Stück Eichenholz geschnitzt hatte. 1986 war das gewesen – Adam war damals zehn.

Neuerdings testete er sich an Daten wie diesen und wiederholte sie, um sie, wenn möglich, nicht zu vergessen. 2003 haben Adam und Shelley geheiratet. 1977 sind wir nach Clyde Bay gezogen. Emily lernte ich 1962 kennen. Ich wurde 1936 geboren, während der Wirtschaftskrise. In Pension gegangen bin ich 19… Nein, ich war siebzig, oder war ich … Wo war ich stehen geblieben?

Robbie sah auf. Er stand in der Küche. Die Schränke hatte er selbst gebaut. Er füllte den Kessel, um Kaffee zu kochen. Jeden Morgen tat er dasselbe, während Emily oben schlief. Bald würde Adam gähnend von oben herunterkommen, um Zeitungen auszutragen, bevor er zur Schule ging.

Ein Hund stupste ihn am Bein an. »Eine Minute noch, Bella«, sagte er munter und blickte nach unten, doch es war nicht Bella. Dieser Hund hatte einen weißen Fleck auf der Brust, und Bella war ganz schwarz, es war … es war Bellas Sohn, es war …

Ein anderer Hund gähnte geräuschvoll und erhob sich mit steifen Gliedern von seinem Kissen in der Ecke der Küche, ein schwarzer Hund mit etwas Grau an der Schnauze und einem weißen Fleck auf der Brust. Robbie sah von dem alten zum jungen Hund, und der junge stupste seine Hand an, wedelte mit dem Schwanz und hieß Rocco. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Das hier war Rocco und der alte sein Vater Tybalt, und Bella war Tybalts Mutter gewesen und schon seit dreizehn Jahren tot.

Robbies Hand zitterte, als er die Tür öffnete, um die beiden Hunde hinauszulassen.

Es war wie der Nebel auf See, der still aus dem Nichts kam und einen so vollständig einhüllte, dass man gar nichts mehr sah, nicht einmal die eigenen Segel. In einem solchen Nebel konnte man nur mithilfe der Instrumente navigieren, nicht mehr auf Sicht. Doch in diesem Nebel versagten die Instrumente. Man segelte in Gewässern, die man kannte wie seine Westentasche, und konnte nicht sagen, wo man sich befand. Man konnte auf einen Felsen auflaufen, dem man schon eine Million Mal ausgewichen war, den man kannte wie einen alten Freund. Oder einen völlig falschen Kurs nehmen und nie wieder zurückfinden.

Er kümmerte sich nicht mehr um den Kaffee, nahm sich ein Stück Papier und einen Stift, setzte sich an den Küchentisch und schrieb Emily den Brief, den er nun schon seit Tagen in seinem Kopf formulierte. Er schrieb schnell, bevor der Nebel zurückkam und ihn aufhielt. Die Formulierungen waren nicht so gewandt, wie es ihm lieb gewesen wäre. So vieles blieb unausgesprochen. Andererseits hatte er Emily immer gesagt, dass er kein Poet war.

Ich liebe dich, schloss er. Du bist mein Anfang und mein Ende, Emily, und jeder Tag dazwischen.

Und das war eigentlich auch schon alles, was er sagen wollte. Das fasste alles zusammen.

Sorgsam faltete er das Papier und schrieb Emily auf die Außenseite. Mit dem Brief in der Hand trat er durch die Küchentür in den Garten, wo ihn die Hunde schwanzwedelnd und hechelnd begrüßten.

Es war das Dämmerlicht vorm Sonnenaufgang. Tybalt und Rocco folgten ihm bei seinem Gang um das Haus, das er für Emily und sich gebaut hatte. Er überprüfte die Fenster, die Stufen zur Veranda, die Türen und die Schindelwände, dann blickte er zum Dach mit den drei Giebeln hinauf und zum Schornstein. Den Sommer hatte er mit Reparaturen verbracht. Um für den heutigen Tag vorzusorgen.

Jetzt gab es nichts mehr zu tun. Alles war gut in Schuss. Der Winter war zwar noch fern, aber Emily würde sich keine Sorgen machen müssen. Danach würde Adam ihr helfen. Vielleicht kam auch William zurück und packte mit an.

Vor den Zedernholzschindeln an der Seite des Hauses wuchs ein Wildrosenstrauch. Letzten Monat hatte er noch von zahlreichen Blüten geleuchtet, nun waren nur noch wenige übrig, die das Ende des Sommers erwarteten. Er pflückte eine Rose vom Strauch, vorsichtig, wegen der Dornen. Sie war rosa und im Innern gelb, mit zarten, ebenmäßigen Blütenblättern.

Er pfiff nach den Hunden, und sie folgten ihm zurück ins Haus. Er schüttete ihnen etwas Futter in die Schalen und wechselte das Wasser in ihren Trinkschüsseln. Dann streichelte er ihnen über die Köpfe und kraulte sie hinter den Ohren.

Danach ging er mit dem Brief und der Rose in Händen die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.

Emily schlief noch, sie hatte sich nicht bewegt. Er schaute auf sie hinab. In ihrem Haar glänzten Fäden aus Silber und Sonne, ihre Haut war im Schlaf entspannt. Sie war das Mädchen, das er 1962 kennengelernt hatte, das Mädchen, bei dem er dachte, er hätte sein ganzes Leben auf sie gewartet. Er überlegte, sie zu wecken, um noch einmal ihre Augen zu sehen. Sie hatten dieselbe Farbe wie das Meer, als er es 1952 zum ersten Mal gesehen hatte, ein Blauton, wie er ihn sich bis dahin nicht einmal hatte vorstellen können.

Doch wenn er sie weckte, um zum letzten Mal ihre Augen zu sehen, würde es nicht das letzte Mal sein, denn sie ließe ihn niemals gehen.

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Und wenn er es immer wieder verschob, würde ihn eines Tages der Nebel für immer umgeben. Er kam unbemerkt, doch dann war er plötzlich überall. Gerade konnte man noch klar sehen, im nächsten Moment war man blind – mehr als blind, denn man wusste nicht einmal mehr, wie es war, sehen zu können.

Er legte den Brief neben das Wasserglas auf ihren Nachttisch. Wenn sie aufwachte, würde er das Erste sein, was sie sah. Auf den Brief legte er die Wildrose. Dann beugte er sich hinunter und küsste sie zärtlich auf die Wange. Er füllte seine Lungen mit ihrem Duft.

»Ich hätte dich niemals vergessen«, flüsterte er, leiser als das Meer draußen.

Dann richtete er sich auf und ließ sie schlafend zurück. Er hatte es sich schwer vorgestellt, aber einst war es ihm noch schwerer gefallen, von ihr fortzugehen. Als sie sich zum ersten Mal voneinander verabschiedet hatten.

Diesmal war es leichter. Denn nun lagen so viele gute Jahre hinter ihnen. Jedes einzelne der gemeinsamen Jahre war gut, war es wert gewesen, durch und durch.

Robbie verließ das Haus durch die Vordertür, damit er die Hunde nicht noch einmal sehen musste. Er ging die Verandastufen hinunter und weiter die abschüssige Einfahrt bis ans Ende des Hofes. Dann überquerte er die Straße und betrat auf der anderen Seite den schmalen Trampelpfad durchs Gestrüpp. Die Zweige streiften seine Hose. Er folgte dem Pfad hinunter, bis er schließlich die Bucht erreichte. Grauer Maine-Granit, fast schon ins Schwarze spielend. Wenn man genau hinsah, glitzerten kleine Glimmerkörner darin wie Diamanten.

Er zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte sie auf einem hohen Gesteinsbrocken ab, wo die Gischt nicht hinkam. Daneben zusammengefaltet Hemd und Hose. Barfuß trat er auf den äußersten Felsen, der feucht war von den Wellen und glitschig vom Seegras.

Er hatte sich vorgestellt, dass es heute vielleicht neblig sein würde, doch das war es nicht. Es herrschte klare Sicht, und die Sonne ging auf. Goldtöne und Rosa, ähnlich wie die Farben der Heckenrose, die er bei Emily zurückgelassen hatte. Es würde ein schöner Tag werden, einer jener Tage, an denen man Monhegan Island am Horizont sehen konnte. Hummerkörbe lugten aus dem Wasser, blau, weiß und rot. Er wusste, wem sie gehörten und wann sie mit ihren Booten kamen, um sie hochzuziehen. Das dauerte noch eine Weile.

Ihm blieb genug Zeit.

Er sprang. Sein Körper machte kaum ein Geräusch, als er in die Wellen eintauchte.

Er war schon immer ein guter Schwimmer gewesen. Es fiel ihm leicht. Er sei ein halber Fisch, pflegte Emily zu sagen. Er schnitt durch die Wellen. Obwohl der Sommer viel Zeit gehabt hatte, das Wasser zu erwärmen, war es so kalt, dass es einem den Atem raubte. Doch wenn man immer in Bewegung blieb, ging es. Eine Zeit lang jedenfalls. Bis einen irgendwann die Strömung erfasste. Die Trümmer eines Bootes, das in Marshall Point, eine Viertelmeile nördlich von hier, auf Grund gelaufen war, hatte man irgendwann im fernen Neufundland entdeckt.

Er schwamm weiter und hielt den Blick auf den Horizont gerichtet. Es dauerte lange, bis er erschöpft war. So lange, dass er noch sah, wie vor ihm die Sonne aus dem Wasser aufstieg, ein warmes Licht, das über das Meer bis zu ihm hin strahlte. Es würde auch ins Fenster des Zimmers scheinen, in dem Emily schlief, und ihr Haar und ihre Wangen streicheln.

Robbie schwamm immer weiter, bis er nicht mehr konnte, dann ließ er sich vom Wasser forttragen, zu etwas, das größer war als er, unendlich viel größer als die Erinnerung.

⭐️⭐️⭐️

Julie Cohen, Das geheime Glück (Diana)

Liebe Leserinnen und Leser in Deutschland, Österreich und der Schweiz,


ich freue mich sehr darüber, dass der Diana Verlag meinen Roman Das geheime Glück in einer so schönen Aufmachung veröffentlicht. Diese Geschichte ist sehr besonders für mich; sie spielt in Maine, USA, wo ich aufgewachsen bin, und Robbie und Emily liegen mir sehr am Herzen. Ich hoffe, euch gefällt das Buch!

Liebe Grüße,

Julie Cohen, Das geheime Glück (Diana)

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