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Rezension zu
Der Lärm der Zeit

Die Macht

Von: Frau Lehmann
30.09.2018

1937, Russland zu Zeiten Stalins. Während einer Aufführung von Dmitri Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Mzensk" verlässt Stalin das Theater. Für uns heute ist das kaum noch vorstellbar, aber das ist Grund genug für den Komponisten um sein Leben zu fürchten. Nacht für Nacht steht er nun mit gepacktem Koffer am Aufzug und wartet auf seine Abholung. Er möchte nicht vor den Augen der Familie aus dem Bett gezerrt werden. Es sind Bilder wie diese, die Barnes' Roman unfassbar beklemmend machen. Wie erträgt man das, Nacht für Nacht? Und was macht die Angst um Leben und Familie mit und aus einem Menschen? Ja, auch Angst um die Familie, denn Schostakowitschs Tod könnte dem Diktator noch nicht ausreichend erscheinen, auch das Leben seiner Frau ist in Gefahr und die Zukunft der Kinder. Unfassbar ist das eigentlich, in lebensbedrohender Gefahr zu sein, nur, weil einem anderen ein Musikstil nicht behagt. Für dieses Mal geht es gut aus, keine Schergen des Diktators erscheinen, langsam kehrt die Familie in den Alltag zurück. Nur was für ein Alltag ist das, ohne Entwarnung, unter ständiger Anspannung, immer unter Beobachtung der "Macht", die unberechenbar bleibt? Wir folgen Schostakowitschs Gedankengängen, die durch sein Leben mäandern, immer wieder verweilen, weiterziehen, zurückkehren. Drei Teile hat der Roman, um drei verschiedene Lebensabschnitte geht es: die Zeit als geächteter Komponist, die Zeit nach einem Amerikabesuch, der ihn weite Teile seiner Selbstachtung kostet und die Zeit des Alters mit Rückblicken auf sein Leben. Immer wollte er eigentlich nur komponieren, doch nie durfte er ein selbstbestimmtes Leben führen. Der Druck von oben, die ständige Angst - hätte er sich wehren sollen? Müssen? Können? Hätte er sein Leben aufs Spiel setzen sollen, um sein Rückgrat zu bewahren, das Wohlergehen seiner Kinder? Hätte er das Risiko eingehen sollen, dass sie ihr Leben in Waisenhäusern verbringen, den Eltern entzogen und gezwungen, die eigene Familie zu verleugnen und zu verachten? Hätte er damit und mit dem eigenen Tod ein Zeichen gesetzt und wenn ja, für wen? Julian Barnes gelingt es, die unsichtbaren Fäden sichtbar zu machen, mit der in einer Diktatur Menschen gefügig gemacht werden. Er zeigt, dass die Angst vor dem, was kommen könnte, den Menschen schlimmer zusetzen kann, als das tatsächliche Ereignis. Aber was viel wichtiger ist, er findet auch deutliche Worte dafür, dass wir in unserer sicheren Welt uns kein Urteil erlauben sollten darüber, was Menschen in einer solchen Situation antreibt. Schostakowitsch ist lange für seine Kooperation mit dem russischen Regime kritisiert worden. Von seinen Kollegen im sicheren Ausland. Dieser Roman hat mir streckenweise schlimmere Atemnot bereitet als jeder Thriller, so hervorragend vermittelt er den Freiheitsentzug, das völlige Ausgeliefertsein und die Hoffnungslosigkeit, diesem Käfig zu entkommen. Ein großartiges Buch, beklemmend, realitätsnah und aktuell - denn Diktaturen funktionieren immer und zu allen Zeiten nach den hier beschriebenen Mustern.

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