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Rezension zu
Neujahr

Auf das, was kommen mag!

Von: daslesendesatzzeichen
16.10.2018

Silvester und Neujahr sind für die meisten Menschen eine willkommene Zäsur. Innehalten, Revue passieren lassen, Pläne schmieden, sich neu definieren. All das scheint um dieses durchaus magische Datum herum leichter zu fallen. Henning, der Protagonist aus Juli Zehs neuestem Buch, beschließt, eben jene besonderen Tage mit seiner Familie dieses Mal nicht zu Hause zu feiern. Es zieht ihn nach Lanzarote, wie getrieben sucht er schon lange im Voraus nach möglichen Ferienhäusern. Doch die, die ihn besonders in den Bann ziehen, sind leider viel zu teuer. So wird ihre Unterkunft ein Kompromiss. Und wie es meist so ist im Leben, sieht das Häuschen im Internet auf den Fotos deutlich größer und charmanter aus als in Wirklichkeit. Ein bisschen tapsen sich die vier auf den Füßen herum, Rückzugsorte gibt es kaum, aber sei’s drum, es ist Urlaub, eine Auszeit vom Alltag – das ist die Hauptsache. Der Urlaub ist dann aber auch nicht weiter spektakulär, so wie es eben manchmal ist. Die Eltern sind ein bisschen genervt – voneinander, von den beiden Kindern (die eine wirkliche Erholung gar nicht zulassen, denn sie haben ja im Urlaub die gleichen Bedürfnisse und benötigen die gleichen Hilfestellungen wie auch zu Hause), Henning vor allem von sich, seine Frau Theresa von allem ein bisschen, aber hauptsächlich vom permanenten Wind auf der Insel. Der Silvesterabend beginnt früh – Eltern kleinerer Kinder werden sich hierin wiederfinden -, denn man kann ja nicht ewig feiern. Im Restaurant, wo sie reserviert haben, sitzt am Nebentisch ein Franzose, der Theresa ohne jedes Schamgefühl offen anflirtet. Sie ist hingerissen von der Tatsache, dass sie noch immer gutaussehende Männer für sich begeistern kann, davon, dass ihr das Französisch so herrlich perlend über die Lippen kommt und davon, dass der Charmeur auch noch so toll tanzt. Henning beschließt zur Feier des Tages, die Flirterei als Kompliment für sich abzubuchen. Schließlich muss, wer eine so tolle Frau hat, selbst auch ein toller Kerl sein. Aber es wurmt ihn natürlich auch … Als er später mit seiner Frau ins Bett kriecht und – emotional ein wenig aufgeladen – einen Annäherungsversuch startet, dreht sie sich weg. Leicht frustriert gibt Henning auf. Am nächsten Morgen beschließt er, der Enge der Wohnung und der Beziehung zu entfliehen und außerdem seinen ersten Vorsatz fürs neue Jahr (mehr Sport!) in die Tat umzusetzen. Er setzt sich aufs mittelprächtige Mietfahrrad und strampelt los, bevor der Rest der Familie aufsteht. Das Fahrradfahren bringt Tempo in den Roman. Was gemächlich und banal begann, nimmt nun Fahrt auf. Je länger der Familienvater sich den Berg nach oben quält, den zu erklimmen er sich in den Kopf gesetzt hat, desto schneller fließen seine Gedanken. Alles Mögliche durchquert da sein Bewusstsein, er legt keinen Filter darüber, er lässt die Gedanken kommen – und hofft bei vielen, dass sie rasch auch wieder gehen. Die Kinder, der Job, seine Mutter (Gott, er müsste sie viel öfter anrufen!), seine Frau, seine Anforderungen an sich selbst, denen er kaum genügen kann – und nicht zuletzt ES kreuzen seine Gedanken. ES, das sind seine Panikattacken. Henning hat sie seit 2 Jahren, er weiß nicht wirklich, in welchen Momenten genau sie kommen, aber sie halten ihn in Schach. Immer, wenn er das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren über bestimmte Situationen, dann geht es los – das ist ja vielleicht auch schon ein Muster. Dehydriert, hungrig und völlig überanstrengt kommt Henning tatsächlich oben an. So übereilt, wie er aufbrach, hat er nicht einmal an Geld gedacht, um sich etwas zu trinken kaufen zu können – aber in dem Örtchen, auf dessen Kirchplatz er genießt, endlich mal wieder wirklich etwas erreicht zu haben, hat sowieso nichts offen. Alles ist wie leergefegt. Und genau hier oben, in dem menschenleeren Kaff, beginnt der eigentliche Sog des Romans. Und dieser Sog, man mag das Buch gut finden oder nicht, ist einfach enorm. Es ist nicht einfach nur der plakative Sog, von dem wir Leser immer reden, wenn wir unserem Gegenüber möglichst bildlich klarmachen wollen, wie gut der Lesestoff ist, von dem wir reden, nein, das hier ist anders. Es ist ein fast körperlich spürbares Unvermögen, das Buch wegzulegen, wenn man diesen Punkt erreicht hat. Ein atemlos machender Zwang, Seite um Seite hinter mich zu bringen, um endlich Klarheit zu bekommen, über das was hier passiert. Bei Henning bricht in diesem gottverlassenen Dorf der Nebel auf, der sich über seine Erinnerungen an früher gelegt hatte. Er dringt durch zu den Gedanken, die Wahrheit bringen – er findet die fehlenden Puzzlestücke, von denen er bislang gar nicht ahnte, dass sie fehlten. Das klingt verworren – ist es auch. Denn der Protagonist merkt, dass hier an diesem Ort der Zugang zu einem Wissen aus seiner Vergangenheit liegt, das er braucht, um Frieden mit sich machen zu können. Er folgt diesem inneren Gefühl, läuft wie natürlich einen bestimmten Weg und landet vor einem abgelegenen Haus, in dem Kunsthandwerk verkauft wird. Er kommt mit der aktuellen Besitzerin ins Gespräch und ein Déjà-vu reiht sich ans nächste. Geistesblitze tauchen auf und wieder ab und plötzlich entsteht ein neuer Erzählfluss und wir sind genau in diesem Haus und Henning ist ein kleiner Junge, der auf seine kleine Schwester aufpasst. Geschickt baut Juli Zeh die gesamte Geschichte auf, den Plot, die Erzählstränge, wie sich alles schließlich eineinander verzahnt. Sie ist eine Meisterin, sie kann wahrlich schreiben. Verblüffenderweise haben ihre Bücher ganz unterschiedliche Stile, Inhalte, Richtungen. Das Verbindende ihrer Romane kann man vielleicht am ehesten beschreiben als Lust am Blick auf die psychischen Besonderheiten einer jeden Person. Wie können sich die Charaktere der Menschen verändern, weil bestimmte Dinge geschehen … oder nicht geschehen. Die Hauptperson des vorliegendenden Buches muss sich ihrer Kindheit stellen, um das Jetzt zu begreifen, um leben zu können. Und trotz des unglaublich orkanartigen Sogs kann ich nicht sagen, dass ich dem Buch 5 von 5 Sternen geben würde. Vielleicht würde ich bei 3 Sternen landen. Natürlich ist dieses Buch gut und dennoch habe und hatte ich Fragezeichen beim Lesen in meinem Kopf. Manche Dinge, Szenen verstehe ich auch jetzt noch nicht, beim erneuten Durchblättern für die Rezension. Warum steht das da? Hat das einen tieferen Sinn, der sich mir nicht erschließt? Warum wird überhaupt Henning beleuchtet, dieser weiterhin seltsam blasse Protagonist? Ich erfahre so viel über ihn, aber dennoch wächst er mir nicht ans Herz – vielleicht, weil alles, was ich erfahre, in der Vergangenheit liegt, die zwar seine Gegenwart gestaltet, ihn mir aber als Erwachsenen nicht näherbringt. Er bleibt wenig fassbar für mich, dieser „Romanheld“, ganz zu schweigen von seiner Frau, die reine Statistin ist. Und dann das Ende! Herr im Himmel! Als wäre Juli Zeh etwas auf dem Herd angebrannt, weswegen sie hastig zwei Sätze als Ende hinkritzelte, den Stift wegwarf und zur Schadensbegrenzung eilte … Was also ist das Resumée? Juli Zeh kann schreiben. Aber will man ein wirklich durchkomponiertes Werk, das komplett rundläuft, dann nehme man bitte „Unterleuten“ – und dann erst „Neujahr“.

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