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Rezension zu
Das Adelsgut

Ein neuer alter Turgenjew – Neuveröffentlichung zum 200. Geburtstag

Von: Sören Heim
05.11.2018

Scheint, Iwan Turgenjew wäre dieses Jahr 200 Jahre alt geworden. Davon hat Herr Turgenjew recht wenig, ich aber immerhin die Möglichkeit, einen gewissermaßen „neuen“ Turgenjew zu besprechen. Denn Manesse hat zum runden Geburtstag unter anderem Turgenjews Das Adelsgut (vormals u.a. Das bzw. Ein Adelsnest) in einer hübschen kleinen Ausgabe, neu übersetzt von Christiane Pöhlman, herausgegeben. Schick eingebunden und handlich mit auf Reisen zu nehmen, allerdings doch eher etwas für Leser mit guten Augen. Ein weiterer Vorteil von neuen Ausgaben etablierter Klassiker: Der Rezensent kann sich hier und da in der Forschungsliteratur oder auch einfach auf Wikipedia Hilfe holen. Denn sind wir ehrlich, die einmalige Lektüre, die einer Rezension meist zu Grunde liegt, wird immer Lücken lassen, die der Besprechung schaden können. Als Feuilletonist größerer Medien hat man, scheint’s, die Pflicht, Gewandtheit noch in den unbekanntesten Werken und Autorenbiografien der Weltliteratur zu suggerieren, bei den Kolumnisten dagegen gebe ich gerne zu: Ich nutze, was ich an Quellen zu fassen bekomme. Und sei es nur, um zumindest die verschlungene Handlung richtig wiederzugeben: Darum geht’s: Der noch relativ junge Fjodor Lawrezki kehrt in das russische Dorf O. zurück, nachdem er Jahre im Westen verbracht hat. Er hat die „Westlerin“ Warwara Pawlowna geheiratet, ist mit dieser nach Paris gezogen, wo er sich nie ganz einleben konnte und endlich auch noch erfahren muss, dass ihm seine Frau fremdgegangen ist. Nun soll er das Gut des Vaters übernehmen. Doch Lawrezki verliebt sich bald in Lisa, die aber von elterlicher Seite einem anderen versprochen ist. Die Nachricht vom Tod der Frau gibt Lawrezki den Freibrief, die Sache dennoch zu verfolgen. Doch dann taucht die Totgeglaubte ausgerechnet in O. auf. Ich bin mit dem heute viele berühmteren Väter und Söhne Turgenjews nie so wirklich warm geworden. Zu thesenhaft, zu konstruiert, zu plakativ dieser gewollt politische Roman, der Dostojewskis Karamasinow-Satire in Die Dämonen dann wirklich verdient erscheinen lässt. Meisterhaft dagegen sind kürzere Erzählungen wie Erste Liebe. Thematisch ist Das Adelsgut sicherlich eher im Bereich von letzteren zu verorten. Eine dramatisch zugespitzte Liebesgeschichte, große Gefühle, menschliche Abgründe. Und doch natürlich auch ein Thema, das obschon universell, sich politischen Perspektiven nicht ganz entziehen kann. Die Frage: Kann ein Mensch sein Glück finden? – Eingekeilt in das ideologische Schlachtfeld zwischen Heimatliebe, Slawophilie und Westlertum. Länge sorgt für Längen Allerdings scheint mir, die Länge bekommt diesem Autor nicht wirklich (und dabei ist Das Adelsgut noch nicht wirklich ein langer Roman, wie man sie von Tolstoi oder Dostojewski gewohnt ist). Eine deutliche Dialoglastigkeit und lange familienbiografische Rückblenden torpedieren die wohlkomponierte Entwicklung der Geschichte, mit denen Turgenjew ansonsten in vielen seiner Erzählungen zu begeistern weiß. Gewonnen wird darin nicht sonderlich viel, das meiste, was hier ausschweifend erzählt wird, wusste der Autor an anderer Stelle stärker zu pointieren. Nicht wirklich nachvollziehbar finde ich die konstanten Hinweise auf die lyrische Natur des Werkes und insbesondere dessen Naturbeschreibungen. Die stellen die Werbung, das Nachwort und auch die deutschsprachige Wikipedia in den Mittelpunkt. Gewiss gibt es ein paar Stellen, an denen sich die Stimmung von Protagonisten in der Natur reflektiert, dominant ist das allerdings keineswegs. Über weite Strecken stehen tatsächlich Dialoge im Mittelpunkt, die teilweise wie im Theater ohne jegliche Einrahmung durch erzählenden Text montiert werden. Man kennt das auch von Dostojewski. Den Einwänden zum Trotz handelt es sich bei Das Adelsgut allerdings um einen durchweg lesenswerten Roman. Auch in der Übersetzung spürt man dieses im Erzählen zuhause Sein eines großen Romanciers, wie sie die vormoderne europäische Literatur vielleicht ein knappes Dutzend hervorgebracht hat. Ob man dafür zur neuen Auflage greifen muss, sollte jeder Leser selbst nach Geldbeutel und Vorlieben entscheiden. Die Übersetzung liest sich gut, flüssig, scheint dabei aber – nach den ersten paar Seiten zu urteilen – eher größere Kompromisse einzugehen als vorherige. Insbesondere die im Russischen generell oft dichte Satzstruktur wird aufgebrochen, wo ältere Übersetzungen sie eher reproduzieren. Dafür erfindet Übersetzerin Pöhlmann wohl keine Satzteile gänzlich neu, was in Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert durchaus vorkommt. In jedem Fall lesenswert ist auch das Nachwort von Machail Schischkin, das die Art und Weise beleuchtet, wie Turgenjew sich immer wieder vom Druck der öffentlichen Meinung hat hinreißen lassen, zeitpolitische Romane zu verfassen, die zwar nicht seinen politischen Überzeugungen, aber doch seiner schriftstellerischen Haltung deutlich entgegenstehen. Das dürfte einer der Gründe sein, warum Turgenjew unter den ganz großen Schriftstellern seiner – nein, jeder – Zeit das durchwachsenste Gesamtwerk produziert hat.

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