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Rezension zu
Der begrabene Riese

Ein Teufelskreis

Von: Buchrevier
12.11.2018

Ja, es ist ein Märchen. Und noch nicht mal ein modernes, sondern eines, das im 5. Jahrhundert spielt; mit tapferen Rittern, wilden Kobolden, Menschenfressern und furchterregenden Drachen. Alles, was so gar nicht meins ist. Aber ich habe mir weder Augen und Ohren zugehalten noch bin ich schreiend weggerannt. Stattdessen habe ich mich für mehr als dreizehn Stunden entführen lassen, der beruhigenden und facettenreichen Stimme von Gert Heidenreich gelauscht und wieder einmal festgestellt, dass die Romane von Kazuo Ishiguro auf ganz besondere Art meine Seele berühren. Ok, vielleicht ist das etwas zu vorschnell und pauschal geurteilt, denn ich kenne neben diesem Roman aus dem Jahr 2015, der jetzt bei Random House Audio als Hörbuch erschienen ist, eigentlich nur noch Ishiguros Klassiker „Was vom Tage übrig blieb“. Gerade habe ich mir noch mal die Verfilmung aus dem Jahr 1994 mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen angesehen, die übrigens hervorragend und sehr nah am Buch ist, und auch hier musste ich wieder mit den Tränen kämpfen. Vielleicht ist es Ishiguros Sprache, dieser disziplinierte, altmodisch-unaufgeregte Erzählton, der einen auch in „Der begrabene Riese“ durch die Geschichte trägt, die Figuren sich entwickeln, Kontur gewinnen und sie einen letztendlich ganz fest ins Herz schließen lässt. So sehr, dass man jede Gefühlsregung der Helden förmlich miterlebt und erleidet und sich am Ende nur wieder schwer von ihnen trennen kann. Vielleicht ist es aber auch die Liebe, die der Autor für seine Protagonisten zu empfinden scheint. Wie sonst könnte er sie mit so viel emotionaler Tiefe ausstatten, dass man als Leser nahezu vergisst, dass es sich nicht um Menschen aus Fleisch und Blut, sondern nur um ausgedachte Romanfiguren handelt. Wie auch immer – Ishiguro bringt etwas in mir zum Klingen. So schlägt mein Herz von Anfang an für die beiden Hauptfiguren Axl und Beatrice, die sich am Ende ihres Lebens noch mal aufmachen, um ihren gemeinsamen Sohn und mit ihm ihre verlorenen Erinnerungen wiederzufinden. Beides haben sie durch den sogenannten Nebel verloren, der sich seit vielen Jahren über das ganze Land gelegt und die Vergangenheit scheinbar ausgelöscht hat. Das ganze Land leidet unter einer kollektiven Demenz, die jeden nur noch im hier und jetzt leben lässt. Was früher war, davon gibt es nur noch ein vage Ahnung. Und das ist einerseits Segen und Fluch. Denn so schön es auch ist, alle Verluste und Niederlagen ein für alle Mal hinter sich zu lassen, keine Lasten mehr auf seinen Schultern zu tragen und unbeschwert in den Tag hinein zu leben, so unvollständig ist ein Mensch auch ohne seine Vergangenheit, egal wie schwierig und belastend sie auch war. Das Thema hat Potenzial, ist interessant und erzählenswert, aber ich habe nur Augen und Ohren für Axl und Beatrice. Wie liebevoll die beiden miteinander umgehen, das ist einfach wunderschön mit anzuhören. So, ja genau so muss eine Beziehung sein. Etwas altmodisch, althergebrachte Rollenbilder zwar, aber für mich trotzdem ein Ideal. Denn in jedem Satz, in jeder Bewegung und Geste ist 100 Prozent Liebe. Und trotzdem, und das ist das Tragische, sind beide voller Zweifel. Die unbekannte Vergangenheit liegt wie ein klaffender Abgrund zwischen ihnen. Was, wenn sie sich nicht immer so geliebt haben wie jetzt? Wenn sie einander wehgetan und Dinge passiert wären, die man sich nicht verzeihen kann. Weiß man es? Warum ist zum Beispiel ihr Sohn nicht mehr bei Ihnen? Was hat ihn veranlasst, sie zu verlassen? Und, wird er sie nach all der Zeit überhaupt wiedererkennen und freudig und die Arme schließen? Am Ende besiegen sie den Nebel des Vergessens und mit Ihnen erwacht das ganze Land aus seinem Dämmer. Und sofort stellt sich die Frage: Ist es jetzt vorbei mit dem auskömmlichen Miteinander von Sachsen und Britanniern, der gelassenen Friedfertigkeit jedes Einzelnen und auch der Liebe des alten Ehepaars? Und wie bei jedem guten Märchen ergibt sich am Ende auch hier eine finale Erkenntnis, eine Lehre, die man aus dem Erzählten zieht: Dass man die Vergangenheit nicht unbedingt braucht, um gut zu leben, dass man ohne sie sogar wesentlich glücklicher wäre. Doch um zu realisieren, dass man jetzt gerade glücklich ist, dafür braucht man wiederum die Vergangenheit. Ein Teufelskreis.

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