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Rezension zu
Neujahr

Neujahr

Von: LiteraturReich
18.11.2018

Am frühen Neujahrsmorgen macht sich Henning auf zu einer schweren Bergtour mit dem Rad, denn in der Nacht war ES wieder da, wie es in Juli Zehs aktuellem Roman vielleicht etwas hochtrabend benannt wird. ES soll ausdrücken, wie ausgeliefert, wehrlos, ja auch ahnungslos Henning sich fühlt, wenn ES sich seiner bemächtigt. Eine erdrückende Übermacht, die sich in plötzlichen, furchtbaren Panikattacken äußert, in denen Hennings Herz verrückt zu spielen scheint, kein klarer Gedanke, schon gar kein Schlaf mehr möglich ist, und die Ausdruck sind von – ja, was eigentlich? Das tückische an solchen Panikattacken, deren Häufigkeit in der deutschen Bevölkerung sehr uneinheitlich mit 2,5 bis 15% angegeben wird, ist, dass meist kein benennbarer Grund für sie vorliegt. Und das ist auch bei Henning so. Er lebt in einer offenbar stabilen Beziehung mit Theresa, die beiden haben zwei kleine, gesunde Kinder, Jonas, 4, und Bibbi, 2, wirtschaftlich geht es der Familie gut. Henning, der als Sachbuchlektor etwas weniger verdient als seine Frau und häufiger zuhause ist, übernimmt etwas mehr Hausarbeit, alles perfekt geregelt. Nun sind die vier über Weihnachten und den Jahresanfang auf Lanzarote im verdienten Familienurlaub. Zwar hat Theresa, wie so oft, auch am Ferienhaus und der Umgebung einiges auszusetzen, zwar sind die Kinder, anstrengend, aber alles im vermeintlich grünen Bereich. Und doch sitzt ihm in der Sylvesternacht die Angst im Nacken. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal reagiert Theresa nicht verständnisvoll wie so oft, sondern unwirsch, ärgerlich. Liegt es am gutaussehenden Franzosen, der sich während des Sylvesterbüffets so offensichtlich an Theresa rangeschmissen hat? Am sichtbaren Gefallen, mit dem sie auf diese Annäherungsversuche eingegangen ist? Henning kann nicht schlafen, auch als die schlimmsten Angstgefühle abgeebbt sind. Deshalb macht er sich in aller Frühe auf zu seiner Radtour. Die Ausrüstung ist mies, das Fahrrad für die geplante Bergtour zu schwer und Proviant und Wasser gehen in der Eile auch vergessen. Trotzdem plagt sich Henning den steilen Aufstieg zum Atalaya-Vulkankrater hinauf, zum Örtchen Femés. Über 90 Seiten verfolgt die Leserin nahezu in Echtzeit diese irrsinnige Anstrengung. Rauer Gegenwind erschwert die Strecke zusätzlich und Henning ist am Rande seiner Möglichkeiten. Aufgeben ist für ihn aber keine Option. Seine Verausgabung ist auch eine Flucht. Die Gedanken können zeitweise immer noch schweifen. Und da werden Brüche sichtbar, Überforderungen, ein gnadenloser Leistungsgedanke, Kränkungen, Enttäuschungen. In neuerer Zeit ist immer wieder die Rede von der Überforderung des „neuen Mannes“, der zerrieben wird zwischen altem Rollenbild und neuen Ansprüchen an seine Empathiefähigkeit, sein Engagement in der Familie. Der darüber die Orientierung verliert und zu kämpfen hat. Mag alles sein, dennoch leiden mehr als doppelt so viele Frauen an Panikstörungen als Männer. Vielleicht ist die Erklärung für die Zunahme psychischer Belastungsstörungen, die Juli Zeh bei einem Interview gab, zielführender, dass nämlich der moderne Mensch dazu neigt, für alles die Verantwortung zu übernehmen, sei es für das Gedeihen der Kinder, die Karriere, das Gelingen von Beziehungen, sogar die eigene Gesundheit. Es gibt keine „höhere Macht“ mehr, der man diese Verantwortlichkeiten übertragen kann. Überforderung, die zu den häufigen „Burnout-Syndromen“ führt, oder eben zu Panikattacken. Juli Zeh belässt es im Roman aber nicht bei diesem Erklärungsversuch. Nachdem wir mit Henning völlig erschöpft, aber auch interessiert, am Gipfel angekommen sind, folgt nicht sogleich die Abfahrt, sondern ein regelrechter Absturz. Die Gegend kommt Henning mehr und mehr vertraut vor. Ein Haus, von einer Deutschen bewohnt, zieht ihn magisch an. War er hier schon einmal? Es folgt eine lange Rückblende in Hennings Kindheit. Ein Erlebnis, ein Urlaub mit seiner Familie, die Ehe der Eltern sich bereits unaufhaltsam in Auflösung befindend, eine kindliches Trauma, das er mit seiner damals zweijährigen Schwester Luna als Fünfjähriger erlebte. Und das durch Auslösung von Urängsten, Verlassensängsten, wohl auch seine Angststörung bis heute befeuert. Diese aus der kindlichen Perspektive geschilderten Erlebnisse sind sehr bedrückend, aber auch spannend, es kommt fast ein wenig Thrilleratmosphäre auf. Die Auflösung ist dann allerdings recht banal. Insgesamt lässt mich das Buch mit einem recht ambivalenten Eindruck zurück. Die Thematik ist interessant, aber Juli Zeh neigt dazu, allzu viel erklären zu wollen. Alles wird auserzählt, alles ist präzise, alltagsglaubwürdig und professionell erzählt. Das lässt wenig eigene Interpretationsmöglichkeit, beispielsweise die, dass Hennings Erlebnisse auf dem Vulkan nur phantasiert sind, seiner starken Dehydrierung geschuldet. Da wäre ein wenig mehr Offenheit begrüßenswert gewesen. Manche Episode, besonders das Zusammentreffen mit dem Ort des verdrängten Kinderschreckens ist allzu brachial konstruiert, manches wirkt ein wenig wie eine Versuchsanordnung, in die man die Figuren hineinsetzt und dann ihr Verhalten analysiert. Juli Zehs Sprache ist zudem wenig kunstvoll, sondern betont schlicht. Dennoch habe ich das Buch gern gelesen. Juli Zeh weiß, wovon sie erzählt, viele Facetten des Buchs sind wohl ihrem Alltag entlehnt, auch sie verreist oft und gerne nach Lanzarote, auch sie lebt mit zwei kleinen Kindern. Ihre Beschreibungen sind präzise und es gelingt ihr immer wieder, neue spannende Themen der Zeit zu finden. Vielleicht hätte ein wenig mehr Zeit dem Roman, der eher eine Novelle ist, gut getan, ein bisschen mehr Überarbeitung die eine oder andere Ecke und Kante abgeschliffen. „Unterleuten“ haben die Jahre, die Zeh an ihm gearbeitet hat, zumindest sehr gut getan. Für mich ist es immer noch das stärkste Buch der Autorin.

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