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Rezension zu
Die andere Frau

Bewegende Familiengeschichte mit Thrillerelementen

Von: Wolfgang Brandner
07.01.2019

SPOILERWARNUNG: Diese Rezension bezieht sich auf den Vorgängerroman "Der Schlafmacher" und setzt daher dessen Kenntnis voraus. Die im Klappentext geschilderte Ausgangssituation setzt den Leser bereits unter Strom: Wer ist diese Frau, die sich als Olivia ... vorstellt und angeblich mit Joe O'Loughlins Vater verheiratet ist? Und warum liegt dieser schwer verletzt im Koma? Treue Leser der Serie wissen, dass der Psychologe sich gemeinsam mit dem ehemaligen Polizisten Vincent Ruiz in diesen Fall verbeißen und alle Täuschungsmanöver mit analytischem Blick entlarven wird. Doch nach den ersten reflexartigen Nachforschungen in William O'Loughlins Haus ist davon keine Rede. "Die andere Frau" ist zeitlich sechzehn Monate nach "Der Schlafmacher" angesiedelt. Am Ende dieses Bandes ist Joes Frau Julianne verstorben. Während also der aufzuklärende Anschlag der Geschichte als roter Faden verbleibt, steht über weite Teile die Auswirkungen dieses Schicksalsschlages im Vordergrund. "Die nachfolgenden Jahreszeiten waren wie die Stadien der Trauer. Der Sommer verging in Leugnung und Isolation, der Herbst brachte die Wut, der Winter die Schuld, und im Frühling hatte meine Depression mich dazu getrieben, Hilfe zu suchen." (S. 10) Charlie, die ältere der beiden Töchter, ist mittlerweile mit ihrem Universitätsstudium beschäftigt und übernimmt zögerlich so etwas wie eine Mutterrolle. Joe selbst wird von der Last der Verantwortung für seine Familie, die er nun alleine schultern muss, beinahe erdrückt. Ganz besonders hingegen hat Emma, die zwölfjährige Tochter unter dem Verlust zu leiden. Ohnehin bereits ein recht schweigsames Kind, zieht sie sich noch weiter in sich selbst zurück. Sie beginnt zu schlafwandeln, wird von Angstzuständen befallen und unterschlägt ihrem Vater Einladungen ihrer besorgten Lehrer. Emma soll eine Schulkollegin die Treppe hinuntergestoßen haben, ein Verweis droht. Das zweite zentrale Thema des Romans ist Joes Familie und insbesondere das Verhältnis zu seinem Vater. Es ist erstaunlich genug, dass die Leser seinen Eltern und Geschwistern erst in diesem Band begegnen. So beginnt er über den Mann zu reflektieren, der ganz offensichtlich ein zweites Leben mit jener titelgebenden anderen Frau als seiner Mutter geführt haben soll. Um mögliche Motive für den brutalen Überfall zu finden, muss Joe in der Vergangenheit suchen - seiner eigenen und jener seines Vaters. Über die Dauer des Romans wandelt sich somit das in der Erinnerung unscharfe, kindlich verklärte Bild einer übergroßen, unfehlbaren Vaterfigur. Anhand von Dokumenten und Gesprächen mit Weggefährten gewinnt dieses Bild zunehmend an Kontur. Die Figur wird von ihrem Podest gestoßen und als dominante Persönlichkeit mit zweifelhaften Moralvorstellungen enthüllt. Der renommierte Chirurg war streng autoritär in der Erziehung seiner Kinder und ebenso skrupellos wie brilliant in seinem Beruf. Joe erfährt von Williams in einer Stiftung veranlagten Vermögen, von seiner zweiten Existenz mit einer deutlich jüngeren, vitaleren Frau als Joes Mutter, von einem vertuschten fahrlässig begangenen ärztlichen Fehler, der eine ganze Familie ruinierte. "Ich habe einen Geist gesehen, und dieser Geist ist mein Vater. Ein überlebensgroßer Mann mit einem Herz aus Stein, der einmal auf einem Sockel stand, dessen Vermächtnis jetzt jedoch so beschmutzt und vollgeschissen ist wie ein Denkmal in London." (S. 278) Der Roman wird mit dem Slogan "Joe O'Loughlins neuester Fall - und sein persönlichster" beworben. Das trifft insofern zu, als dass die bisher unbekannte Familienchronik der O'Loughlins aufgeblättert wird. Im Gegensatz zu Joes Vater William war seine Frau Julianne, die Liebe seines Lebens und Mutter seine Töchter seit Beginn der Serie eingeführt und ebenso wie Joe selbst dem Leser beinahe persönlich bekannt. Über mehrere Romane konnten die Leser eine emotionale Nähe entwickeln. Juliannes Verlust in "Der Schlafmacher" ist also weitaus aufwühlender, bewegender, persönlicher (wenn dieser Begriff schon verwendet werden soll) als der Überfall auf den bis dahin unbekannten Vater. Essentieller Bestandteil der Serie ist auch der seit "Amnesie" bekannte, rauhbeinig-kumpelhafte ehemalige Polizist Vincent Ruiz. Dieser arbeitet inzwischen als Ermittler für Unternehmensbetrug und fährt einen protzigen Mercedes. Bis Seite 92 muss man sich beim Lesen gedulden, bis Ruiz erstmals in Erscheinung tritt. Üblicherweise ist er einmal mehr, einmal weniger Joes Partner in den Ermittlungen, diesmal jedoch zu wenig präsent. Seine Rolle scheint darin zu bestehen, einem Schutzengel gleich über der Szenerie zu kreisen, um dann einzugreifen, wenn es brenzlig wird. Das ist für Joe gewiss angenehm, für den Leser jedoch wenig befriedigend. Dazu passt, dass auch die Covergestaltung einen Bruch darstellt. Das konkrete Motiv und die Farbgebung erinnern eher an Michael Robothams letzten Roman "Die Rivalin", einen Standalone, als die abstrakten, mit Blutspritzern versehenen Cover der O'Loughlin-Serie. Darüberhinaus prangt auch das inflationäre Etikett "Psychothriller" auf dem Titelbild. Offensichtlich wird der Roman aus Tradition so eingeordnet, hier ist diese Zuordnung jedoch irreführend. "Die andere Frau" weist für einen Thriller jedoch einen eklatanten Mangel an spannungserzeugenden Elementen auf. Die Figuren stehen nicht unter Zeitdruck, sind keiner unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt. Die Kapitel enden nicht mit Cliffhangern, auf überraschende Wendungen wartet man vergeblich. Die Dramaturgie erinnert eher an einen Regionalkrimi, in dem die Erkundung landschaftlicher und kulinarischer Spezialitäten der jeweiligen Örtlichkeit wichtiger ist als die Aufklärung des Mordfalles. Auch hier gilt das Hauptaugenmerk dem weiten Land der O'Loughlin'schen Seele. Will man sich auf ein Genre festlegen, so kann man den Roman eine Familiengeschichte nennen, aufgespannt auf dem Rahmen eines britischen Whodunnits. Trotz eines kaum wahrnehmbaren Spannungsbogens weckt der Roman die Neugier, will gelesen werden. Diese Wirkung verdankt er der zugkräftigen, wie immer überaus lebendig gezeichneten Hauptfigur. Dieses hohe Maß an Authentizität erreicht der Autor vor allem durch den abgeklärten Tonfall eines an Parkinson erkrankten Mannes, der seinen Lebenszenit bereits überschritten hat. Joe O'Loughlin reflektiert von Berufs wegen stets präzise, seine Überlegungen sind von Erfahrung und einer pointierten Alltagsweisheit geprägt. "Vor sechzehn Stunden habe ich Rosie gesagt, sie solle das Leben wählen, weil es ein Geschenk ist. Ich habe ihr gesagt, dass das Leben zweite, dritte und vierte Chancen bietet, alle voller Hoffnung und Möglichkeiten. Was für ein Heuchler ich bin. Was für ein Betrüger. Was für ein Feigling. Emma hat mehr Mut in ihrem Ohrenschmalz als ich in meinem ganzen verbogenen und verfallenen Körper." (S. 471) Persönliches Fazit "Die andere Frau" ist ein weiteres Wegstück mit einer liebgewonnenen, inzwischen gut bekannten Figur, nachdenklich und melancholisch erzählt - nicht mehr und nicht weniger. Für sich alleine wäre der Roman vermutlich langweilig, als Teil der Serie ist es ein wichtiges weiteres Stück, ohne das vermutlich eine Lücke entstünde.

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