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Rezension zu
Anna und der Schwalbenmann

Poesie der Einsamkeit: Gavriel Savits „Anna und der Schwalbenmann“

Von: lies-geschichte
01.03.2019

Wie einem Kind das Grauen des Nationalsozialismus, überhaupt das Leid von Krieg und Mord, von menschlicher Grausamkeit erklären? Das heutige didaktische Problem überträgt Gavriel Savit in seinem Jugendbuch „Anna und der Schwalbenmann“ in den Text selbst. Wie einem kleinen Mädchen erklären, dass der Vater einfach verschwindet, weil die Nazis ihn als Angehörigen der intellektuellen Elite ermordet haben? Die Antwort, die dieser poetische Roman gibt, ist so bedrückend leicht wie erhaben schwer: Mit Geschichten. Gavriel Savit nimmt uns mit in die Zeit des Zweiten Weltkrieges und zeigt uns fernab der großen Städte und Straßen, inmitten der Einsamkeit der Wälder und Wanderwege umso eindrücklicher, wie existenziell bedrohlich der Mensch dem Menschen werden kann, wie einsam wir alle sind und wie schwer es ist, Mensch zu bleiben, trotz allem. Die Handlung beginnt 1939 in Krakau. Anna ist ein Intellektuellenkind und wächst in der multikulturellen Atmosphäre einer bunten Weltstadt auf. Mal spricht sie deutsch, mal jiddisch, mal polnisch, mal französisch. Die Freunde des Vaters sind auch ihre Freunde, die Welt ist ein Sammelsurium spannender Menschen mit eigenen Geschichten und bunten Erlebnissen. Bis ihr Vater sie eines Tages bei einem befreundeten Apotheker lässt und nicht zurückkehrt. Der Apotheker will Anna jedoch auch nicht beherbergen. Er ist Deutscher, das Kind eines Ermordeten will er offensichtlich nicht bei sich unterbringen. Welche Ethnizität Anna selbst hat, wird nie deutlich, sie weiß es selbst nicht, genauso wenig wie sie weiß, wohin sie gehen soll, nachdem sie stundenlang von der abgeschlossenen eigenen Wohnungstür gesessen hat. Schon hier wird auf wundersame Weise die Absurdität ethnischer Zugehörigkeiten deutlich und gleichsam die (vermeintliche) Sicherheit, die sie manchen vermitteln gespiegelt. Ganz ohne dass es klar ausgesprochen würde. Anna ist verzweifelt und hat Angst. Doch dann passiert ein kleines Wunder: Auf der Straße, vor der Apotheke, trifft sie einen leicht unheimlichen, mysteriösen Mann, der genau wie sie die Sprachen wechseln kann wie Kleider und der sogar mit Vögeln spricht. Er lockt eine Schwalbe zu sich, um Anna zu trösten. Und Anna weiß plötzlich, was zu tun ist. Sie folgt dem Schwalbenmann. Geschichten und Identitäten und wir: Dazwischen Der Schwalbenmann ist ein Rätsel für Anna und er wird es das ganze Buch über bleiben, doch eines erkennt Anna intuitiv von Beginn an: So, wie eine Tochter nicht ohne Vater sein kann, so kann auch ein Vater nicht ohne Tochter sein. Die gemeinsamen Verluste schmieden die beiden aneinander, der Schwalbenmann und Anna wandern durch Polen, Jahre vergehen und in kurzen Sätzen gelingt es Savit, die historischen Hintergründe einzuflechten, während er ansonsten beschreibt, wie Anna langsam erwachsen wird und doch in einer Welt der Geschichten lebt. Wie sie dabei bleibt, die Nazis als Wölfe und die Sowjets als Bären zu betrachten, ganz so, wie der Schwalbenmann es ihr von Beginn an erklärt hat. Wie sie durch die Geschichten des Schwalbenmanns ihren eigenen Namen verliert und doch nicht verloren geht, bis eines Tages die Frage im Raum steht, ob es wirklich möglich ist, ein einziges Menschenleben gegen viele aufzurechnen. Und ob wir, wenn wir einmal unsere Maske haben fallen lassen, wieder zurückkönnen in die Rollen, die wir uns selbst gesucht haben. Vom Wert eines Menschenlebens Gavriel Savit erzählt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Besatzung in Polen eine berührende Geschichte von Menschenwürde und Anstand, die so philosophisch wie poetisch ist und an vielen Stellen so grausam und buchstäblich herzzerreißend, dabei so ruhig und nachdenklich, dass es weh tut. Aufgrund der hohen Abstraktion ist die Empfehlung des Verlages ab 14 Jahren sicherlich sinnvoll, zumal der historische Kontext wirklich nur en passant geliefert wird. Weiterführende Hinweise finden sich nicht am Ende des Textes. Dennoch sei dieser Roman wärmstens empfohlen. Eben gerade, weil der historische Rahmen so selbstverständlich erzählt wird, ist er umso eindrücklicher präsent und zugleich viel näher an uns dran, als gelegentlich lieb ist. Die Rätselhaftigkeit der Charaktere lässt uns über uns selbst rätseln, das Fehlen von Schwarz und Weiß-Malerei, von eindeutigem Böse und Gut macht das Rätsel noch schwerer. Was sind die Dinge die uns leiten, wer wollen wir sein, wie können wir das Elend der Welt ertragen? „Anna und der Schwalbenmann“ lädt ein, darüber nachzudenken. Gestaltung 5/5 Sprache 5/5 weiterführende Tipps 0/5 Handlung 5/5 Gavriel Savit: Anna und der Schwalbenmann. Mit Illustrationen von Laura Carlin. Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz-Ventura. Ab 14 Jahren. ISBN 978-3-570-16404-4. München: cbt 2016.

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