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Rezension zu
HERKUNFT

Literarisches "Selbstporträt mit Ahnen"

Von: Buchfundbüro
27.03.2019

In Herkunft wendet sich Saša Stanišić den Schauplätzen der eigenen Biografie zu. Auf seiner literarischen Spurensuche – die von Višegrad über Heidelberg nach Hamburg und wieder zurück führt – fragt er jedoch nicht nur nach dem Einfluss der Orte auf die eigene Identität. Mit seinen Erzählungen von Krieg, Flucht und Neuanfang führt er zudem eindrücklich vor, warum es längst an der Zeit ist, Begriffe wie Heimat und Zugehörigkeit aus ihrer nationalen Fixierung zu lösen.  Die Geschichte, die Stanišić in Herkunft erzählt, findet ihren Anfang im Sommer 2009. Gemeinsam mit seiner Großmutter reist er in diesem Jahr in ein abgeschiedenes bosnisches Bergdorf namens Oskuruša, dem Geburtsort seines Großvaters.  Der Besuch am Grab seiner Vorfahren, die Gespräche mit den wenigen verbliebenen Einwohnern des aussterbenden Dorfes, all dies bildet den Ausgangspunkt für ein sehr persönliches "Selbstporträt mit Ahnen". Mit seinem episodenartigen Erzählstil,  dem beständigen Hin- und Herspringen zwischen Zeiten und Orten, präsentiert sich der autobiografische Text dabei als eine Art literarisches Erinnerungsmosaik, das sich aus den Lebensläufen dreier Generationen zusammensetzt. Um die Rekonstruktion einer Familiengeschichte im klassischen Sinne geht es Stanišić dabei jedoch eher am Rande. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Suche nach der eigenen Position in einem spezifischen Gefüge von Menschen und Orten – oder kurz gesagt die Frage: Was hat das eigentlich alles mit mir zu tun? Denn während für die bis dato unbekannten Verwandten in Oskuruša feststeht, dass der inzwischen in Deutschland lebende Autor selbstverständlich ,einer von hier' ist, bleibt Stanišić selbst deutlich skeptischer gegenüber allzu einfachen Herkunftsdefinitionen. So wird seine ebenso persönliche wie poetische Annäherung an die Vergangenheit vor allem auch von grundlegenden Zweifeln begleitet: Lässt sich – aus der Perspektive des Jahres 2018 – überhaupt bedenkenlos über Heimat und Abstammung nachdenken, ohne damit jene Politik der Ausgrenzung fortzuschreiben, die ja gerade diese Begriffe zu ihren zentralen Schlagworten erhoben hat? Es ist nicht zuletzt diese Frage, auf die Stanišić mit seinen schlaglichtartigen Einblicken in die eigene Biografie, aber auch die Lebensgeschichten seiner Eltern und Großeltern, eine Antwort zu geben versucht. Dabei greift er erneut Themen auf, die bereits Eingang in seinem Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) fanden. So erzählt er von seiner Kindheit in Jugoslawien, von den ersten Vorboten des Krieges und schließlich auch dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaats. Davon, wie er zu Beginn der 1990er Jahre mit der Mutter vor der eskalierenden Gewalt nach Deutschland flüchtet und Schritt für Schritt nicht nur in einem fremden Land, sondern auch einer fremden Sprache Fuß fasst. Wie er noch als Schüler erste Schreibversuche unternimmt und schließlich durch die Tätigkeit als Schriftsteller eine Aufenthaltserlaubnis und damit auch eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland erschreibt.  Doch die Anekdoten vom Ankommen, von  Selbstbehauptung und erfolgreichen Neuanfängen, markieren nur die eine Seite einer Geschichte, zu der auch gehört, dass eine Familie infolge des Krieges auseinandergerissen und über verschiedene Länder und Kontinente zerstreut wird. Dass eine Rückkehr in die frühere Heimat unmöglich geworden ist. Nicht nur, weil das Land, in dem man geboren ist, nicht mehr existiert, sondern auch, weil die einst vertrauten Orte zu Schauplätzen der Gewalt geworden sind. Weil die persönlichen Erinnerungen überlagert werden von dem Wissen um die hier vollzogenen Gräueltaten. Dass sich Stanišićs  Auseinandersetzung mit Identität und Zugehörigkeit vor diesem Hintergrund kaum mit nationalen Begriffen erfassen lässt, wird dabei schnell deutlich. Etwa dann, wenn er Herkunft als etwas beschreibt, das – mit der Großmutter in Bosnien, der Mutter in Kroatien und dem Sohn in Hamburg – stets an mehreren Orten zugleich stattfindet. Oder dann, wenn er – frei von jeglichem "Zugehörigkeitskitsch" – einer Heidelberger ARAL-Tankstelle eine mindestens ebenso identitätsstiftende Wirkung wie dem eigenen Geburtsort zuschreibt. Vor allem aber und besonders eindrücklich auch dann, wenn er an die ,unerhörte Selbstverständlichkeit' erinnert, mit der in den 1990er Jahren überall in Jugoslawien plötzlich die Rassisten aufmarschierten. Wenn er mit seiner Warnung vor dem "zersetzenden Potenzial der Nationalismen" eine Brücke in die Gegenwart des Jahres 2018 schlägt. Einer Zeit also, in der Grenzen, die er selbst noch überschreiten konnte, längst unüberwindbar geworden sind, die AfD Wahlergebnisse im zweistelligen Bereich erzielt und in Chemnitz ein "Hitler-Gruß [...] über der Gegenwart" hängt.   So sehr Stanišić dabei einerseits als Chronist des Gegenwärtigen und  Vergangenen in Erscheinung tritt, widmet er sich zugleich insbesondere auch der Unaufhaltsamkeit des Verschwindens und Vergessens. So lässt sich Herkunft vor allem auch als ein Abschiedsbuch lesen, ein Buch, das sich nicht nur mit verschiedenen Aspekten des Heimatverlustes beschäftigt, sondern auf einfühlsame Weise auch davon berichtet, wie sich die Großmutter nach und nach in der Demenz verliert. Wie schon in vorausgegangenen Texten liegen dabei Fakt und Fiktion, Erinnern und Erfinden stets eng beieinander. Spätestens wenn der Leser die Großmutter des Autors aus einem Altenheim befreien oder auf Drachenjagd begleiten und auf diese Weise selbst am Ende der Geschichte mitwirken darf, tritt zum wiederholten Male jene unbändige Freude am Fabulieren zutage, die Stanišić zu seinem literarischen Markenzeichen gemacht hat. So besticht Herkunft letztlich nicht nur als kluger zeitpolitischer Kommentar, sondern vor allem auch als ebenso kunstfertiges wie kreatives Spiel mit der Sprache und den Mitteln und Möglichkeiten der Literatur.  

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