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Rezension zu
Gott wohnt im Wedding

Ein Haus voller Geschichten

Von: Kirsten Wilczek
23.04.2019

Mag sein, dass Gott inzwischen im Wedding wohnt. Er stammt jedenfalls nicht von dort, wie Hanns Dieter Hüsch schon vor Jahrzehnten ausgeplaudert hat: "Sach ma nix, dass auch ich Niederrheiner bin, sonst blutet ja den anderen das Herz." Nur, damit das Grundlegende vorab geklärt ist. Es hilft Niederrheiner zu sein, um den neuen Roman von Regina Scheer mit Genuss und Mehrwert zu lesen. Die hohe Kunst der Bildung niederrheinischer Assoziationsketten, das „Vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen“-Prinzip, beherrscht die gebürtige Berlinerin, die 2014 mit ihrem Debütroman „Machandel“ auf sich aufmerksam machte, in so außergewöhnlicher, bemerkenswerter Weise, dass selbst mein Onkel Franz glatt vor Neid erblasst wäre. Dabei konnte der auch viele Geschichten über beinahe jeden erzählen. So, wie zum Beispiel über … Stopp! Das ist eine andere Geschichte. Mein innerfamiliäres Beispiel dient lediglich der Veranschaulichung des Erzählprinzips der Autorin, die ein über hundert Jahre altes Mietshaus als Füllhorn für Dutzende Geschichten ausgewählt hat. Berichtet wird über die Erbauung des Hauses, die Handwerker, die es errichtet haben, die Bewohner, die darin gute und schlechte Zeiten erlebt haben, insbesondere die Familien Romberg, Neumann und Fidler. Es ist eine wechselvolle Geschichte. Erst Nachbarn, dann im Tausendjährigen Reich auseinanderdividiert in Deutsche, Juden und Zigeuner, gehen sie ihrem Schicksal entgegen, manche fliehen, wenige entkommen. Wir erfahren vom Aufstieg und Fall der Familien, von Verfolgung, Leid, aber auch Zusammenhalt, Hoffnung und Neubeginn. Gleiches gilt für das Haus, das einst prachtvoll und komfortabel war, aber nun zum Spekulationsobjekt verkommt, entmietet werden soll und doch Auffangbecken für Chancensucher, Geflüchtete und Gefangene am unteren Rand der Gesellschaft ist. Es weiß, dass seine Tage gezählt sind. Es erzählt und unkt selbst. Ein Haus als Erzähler? Warum nicht, wenn gleich ich die Idee bei Madeleine Prahs in ihrem Roman „Die Letzten“ origineller umgesetzt fand. Anrührend gelingt Regina Scheer die Geschichte der alten Gertrud Romberg, die beinahe so alt wie das Haus ist, und die dort ihr ganzes Leben lang gewohnt hat. Nicht so stark, wenn auch eindrücklich, erzählt sie von Leo Lehmann, der als Jude in Berlin das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, um dann in Israel eine neue Heimat zu finden. Er kehrt als über Neunzigjähriger zurück und geht auf Spurensuche. Irritiert ist er über die jungen Juden, die in Berlin leben wollen, und die, die es bereits tun. Er erkennt, dass es inzwischen ein anderes Berlin ist, aber die Erinnerung legt sich immer wieder wie ein Konversionsfilter über die neuen Farbbilder. Und da ist Laila, eine Sintiza, die sich in ihrem Leben ohne besondere Rücksichtnahme auf ihre Herkunft eingerichtet hatte, aber nun doch ihre Wurzeln spürt und mit ihnen wächst. Es gibt eine karge Rahmenhandlung, die konstruiert ist, aber vor lauter Miniaturen nicht als konstruiert wahrgenommen wird. Dass Laila ausgerechnet in das Haus zieht, in dem ihre Familie vor der Verfolgung gewohnt hat, dass Leo Lehmann und Getrud Romberg noch leben, nicht der Demenz verfallen sind, um vielleicht noch eine alte Schuld zu klären, nun, das ist schon arg ausgedacht, aber schafft einen Spannungsbogen, der einen über die rd. 400 Seiten bei Leselaune hält. Wenn man Regina Scheer etwas vorwerfen will, dann vielleicht, dass sie arg viel gewollt hat, nämlich Sensibilität für die viele Probleme schaffen: Immobilienspekulanten, Gentrifizierung, Armut, Migrationsprobleme, die Verbürokratisierung und Rationierung von Hilfsbereitschaft. Und wenn man ihr etwas zugutehalten will, dann ist es das Wissen, das sie großzügig an ihre Leser verschenkt. Am Ende weiß man mehr. Wer die gewählte „niederrheinische Erzählweise“ (siehe oben) mag, unterwegs etwas lernen will, und nicht den Pageturner mit Sogwirkung sucht, der könnte hier durchaus richtig sein.

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