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Rezension zu
Gott wohnt im Wedding

Gott wohnt im Wedding

Von: Fräulein Julia
27.04.2019

In einem Haus in der Utrechter Straße im Wedding führt Regina Scheer in ihrem neuen Roman zahlreiche Menschen, Nationen, Religionen und Erinnerungen zusammen. Dass „Rom“ einfach „Mensch“ heißt, „Roma“ und „Romnija“ den männlichen bzw. weiblichen Plural in der Sprache Romanes beschreiben – das wusste ich bisher nicht. Überhaupt, wird mir beim Lesen von Gott wohnt im Wedding bewusst: Über Roma und Sinti weiß ich wenig bis gar nichts, höchstens, dass die Frauen meistens lange dunkle Haare und ebenso lange Röcke tragen, in Berlin sieht man sie außerdem häufig in den U-Bahn-Stationen oder vor Supermärkten um Geld fragen. Ein Bild, welches stark von Stereotypen geprägt ist, so viel muss ich mir, auch wenn es unangenehm ist, eingestehen. Möchte Regina Scheer also mit ihrem neuen Roman zum kulturellen Verständnis beitragen? Ziemlich sicher – aber ihr Buch enthält noch so viele weitere Ebenen. Wir befinden uns in einem Haus in der Utrechter Straße im Stadtteil Wedding; der ehemalige Arbeiterbezirk, auch „roter Wedding“ genannt, ist seit vielen Jahren „im Kommen“, wie immer wieder geschmunzelt wird. Tatsächlich wird die Anzahl der hippen Cafés immer größer, die Mietpreise steigen – und auch das Gebäude, das den Mittelpunkt des Romans bildet, ist davor nicht geschützt. Die Eigentümer haben es verkauft und niemand kümmert sich mehr darum, wenn die Heizung ausfällt oder ein Fenster kaputt geht, müssen die Bewohner*innen selbst Hand anlegen. Trotzdem möchte Gertrud Romberg nicht aus ihrer Dachgeschosswohnung ausziehen: Sie ist schon über 90 Jahre alt, aber in diesem Haus aufgewachsen und dem alten Gemäuer mit zahlreichen Erinnerungen verbunden – vor allem an die Zeit vor dem und während dem zweiten Weltkrieg, als im Hauseingang ein Hitlerjunge erstochen wurde und es seitens der SA zu blutigen Vergeltungen kam. Damals verlor sie auch ihre große Liebe Manfred, der sich mit seinem Freund Leo – beides Juden – gelegentlich bei ihr versteckte. Leo lebt aber noch und tatsächlich kommt er, nach vielen Jahrzehnten in einem Kibbuz in Israel, mit seiner Enkelin nach Berlin, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln und seiner Geburtsstadt einen letzten Besuch abzustatten. All die Jahre war er davon überzeugt, Gertrud hätte Manfred verraten und so seinen Tod verursacht. Kann man solche alten Wunden heilen? Doch Regina Scheer gibt sich nicht mit zwei Personen zufrieden, das schrammelige Haus wird darüber hinaus von verschiedenen Familien bewohnt, die der Roma und Sinti zugehörig sind und unter übelsten Bedingungen auf Matratzenlagern in den Zimmern hausen. Und sie gibt diesen Menschen, die in unserer Alltagsaufmerksamkeit kaum vorkommen, ein Gesicht und eine Stimme: Da ist Laila, die aus einer deutschen Sinti-Familie stammt und ihre Zugehörigkeit lange verleugnete, im Haus zunehmend aber zur Dolmetscherin der anderen wird; da sind Norida, Lucia, Nikola und Suzana, stolze Romnija, die verzweifelt versuchen, in Deutschland einen Fuß auf den Boden zu bekommen und letztendlich auf verschiedene Arten daran scheitern. Und – ein recht ungewöhnliches Erzählformat – Scheer lässt auch das Haus selbst zu Wort kommen, dessen Balken nach über Hundert Jahren ächzen und das die Geschichten erzählen kann, für die aus einer anderen Erzählperspektive viele weitere Zeitsprünge nötig gewesen wären. Wieder ein Familienepos Auf jeder Seite des Romans merkt man: Die Autorin muss wahnsinnig viel Zeit aufgewendet haben, um über die Geschichte des Weddings seit der Jahrhundertwende und über die Lebensbedingungen, Traditionen und Verhaltensweisen von Sinti und Roma zu recherchieren. Auch die wirren Zeiten unter der Nazi-Herrschaft, das Leben von Manfred und Leo als „U-Boote“, die Anfänge der Kibbuze in Israel und die teilweise hahnebüchen komplizierten Rückführungen jüdischen Eigentums spielen eine wichtige Rolle im Buch. Manchmal driftet die Geschichte deswegen in Details ab, die für die Handlung an sich keinen Nutzen haben und man fühlt sich von den ganzen Namen überfordert. Meistens fügt es dem Gesamtbild bzw. der Charakterisierung der einzelnen Figuren aber eine Art plüschiges Polster hinzu, durch die man ihr Handeln besser versteht. Nach Machandel hat sich Regina Scheer erneut ein Familienepos als Grundlage ausgesucht, welches sich, mit vielen Zeitsprüngen und Erzählebenen, über mehrere Generationen zieht. Gott wohnt im Wedding kann ihrem ersten Roman nicht ganz das Wasser reichen – doch zeigt auch er: Geschichte(n) erzählen, das kann Frau Scheer!

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