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Rezension zu
HERKUNFT

Saša Stanišić: Herkunft

Von: Esthers Bücher
19.05.2019

Das neue Buch von Saša Stanišić ist ein biografischer Roman, in dem er seiner eigenen Herkunft nachgeht. Er war 14 Jahre alt, als der Krieg in Jugoslawien ausbrach und seine Familie fliehen musste. Er sprach kein Wort Deutsch, als er damals in Heidelberg ankam. Heute ist ein Meister der deutschen Sprache, was auch sein vierter Roman belegt. In Herkunft geht er also seiner eigenen Geschichte nach, sucht nach Erinnerungen aus der Kindheit in Višegrad, wo die Familie bis 1992 gelebt hat. Und erzählt von der Ankunft in Deutschland, über die erste Zeit an einer internationalen Schule, wo keiner in der Klasse Deutsch sprach, und über die Jahre am Gymnasium, wo er nach und nach auch deutsche Freunde fand. Gleichzeitig ist dieses Buch aber auch eine Herkunftsgeschichte seiner Großmutter, die inzwischen dement ist. Er hatte als Kind eine sehr enge Beziehung zu ihr, sie hat sich um ihn gekümmert, als er klein war und die Eltern in der Arbeit waren. Er hat sich damals schon viele Geschichten ausgedacht und das war auch ein Spiel, das sie mit der Großmutter zusammen gespielt haben. Nun erkennt ihn die Großmutter kaum noch und er versucht mit aller Kraft mehr über sie zu erfahren. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit und auch eine Zwickmühle. Die Großmutter kann sich oft weder in Zeit noch im Raum orientieren, und jeder Versuch, sie zurückzubringen, ist ein Schock für sie, wenn sie sich dann tatsächlich in der Realität wiederfindet. Ist es nicht schonender, doch lieber Geschichten zu erzählen? Die Kindheit im sozialistischen Jugoslawien und danach der plötzliche Wechsel in ein kapitalistisches Land bringt lustige Situationen mit sich, ist aber auch nicht einfach für einen Teenager, der nicht hervorstechen will. Der Wunsch nach einer baldigen Integration und danach, wegen des Kriegs nicht bemitleidet zu werden, fördern die natürliche Veranlagung des Jungen, Geschichten zu erzählen. "Zu neuen Bekanntschaften sagte ich also dann und wann, ich käme aus Slowenien. Die Alpenrepublik war am wenigsten in den Schlagzeilen gewesen, ich würde eher als Skifahrer denn als Opfer gesehen, hoffte ich." (Seite 147) Als Flüchtlinge durften die Familienmitglieder damals nur so lange in Deutschland bleiben, bis der Krieg vorbei war. Danach mussten sie nach Bosnien zurükkehren. Die Umstände in Bosnien ließen eine Rückkehr jedoch nicht zu und der Familie drohte die Abschiebung. Als Saša Stanišić 18 war, sind seine Eltern in die USA ausgewandert und er blieb in Deutschland. Er konnte auch nur bleiben, weil ein Beamter ihm geholfen hat – eine reine Glückssache also. Und eine Geschichte, die sich heute zu wiederholen scheint, und das mit weit größeren Massen an Flüchtlingen und deutlicher gezogenen Grenzen. Wie es auch im Roman erwähnt wird, würde die Familie Stanišić heute den Weg gehen wollen, den sie damals auf der Flucht gegangen ist, würde sie an der ungarischen Grenze am Stacheldrahtzaun steckenbleiben. So, wie es vielen heute ergeht. Wir kennen nur ihre individuellen Geschichten nicht. Bei der Erkundung der Herkunft der Großmutter besucht Saša auch Oskoruša, das Dorf des Großvaters, in dem heute nur noch dreizehn Menschen leben – wie die Erinnerungen der Großmutter, ist auch dieses Dorf im Verschwinden. In diesem Dorf lebt die Geschichte um den Heiligen Georg, den Drachentöter bis heute ganz stark – allerdings scheinen die Dorfbewohner eher auf der Seite des Drachen zu stehen. Diese fast religiöse Drachenverehrung gibt dem Dorf und auch der ganzen Geschichte eine mythisch-mystische Färbung. Einen perfekten Abschluss kriegt der Roman in der Form einer Abenteuergeschichte, geschrieben wie Bücher, die ich in meiner Jugend auch geliebt habe, in denen wir Leser entscheiden konnten, wie die Geschichte weitergehen soll. Die Räuberbande nähert sich, versuchst du dich irgendwie aus der Situation herauszureden und sie überzeugen, dass du keine Bedrohung darstellst? Dann lese auf Seite 312 weiter. Versuchst du lieber, dich irgendwie zu verstecken, lese weiter auf Seite 245. In Herkunft geht es darum, die Großmutter zu einem Abenteuer zu begleiten oder zu versuchen, sie in die Realität zurückzubringen. Ich habe an der Seite der Großmutter Drachen bekämpft und fühlte mich auch in meine eigene Kindheit zurücktransportiert, eine ganz seltsame und gute Erfahrung. Ich bin Saša Stanišić sehr dankbar für dieses Buch. Nicht nur, weil er darin einen Einblick in seine eigene Geschichte und die kostbare Beziehung zu seiner Großmutter gewährt. Auch dafür, dass er in diesem Buch ein individuelles Flüchtlingsschicksal aufzeichnet, denn wir brauchen gerade heute mehr davon. Und auch dafür, dass er mich über meine eigene Herkunft und meinen eigenen Weg nach Deutschland und in die deutsche Sprache nachdenken ließ.

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