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Rezension zu
Der Beginn

Schöne Tage und Szenen einer Ehe

Von: Michael Kuhl
25.06.2019

Dänemark gilt als das glücklichste Land der Welt – trotz miserablen Wetters. In Norwegen ist es anders. Norwegen, Schweiz des Nordens, nur reicher. Reich wegen seiner Wälder und Seen und der Ölindustrie. Wegen seiner Fjorde und der Landschaft im Allgemeinen. Walfang – auch. Terje liebt diese Landschaft nicht nur. Er arbeitet für ihr Fortbestehen. Er ist Wissenschaftler und Naturschützer. Vielleicht auch Misanthrop, aber das wissen wir nicht. Er lebt mit Frau und Tochter den amerikanisch-norwegischen Traum. Kleinfamilie, Vorgarten, Carport – tausendfaches Leben der oberen Mittelschicht kopiert in den Suburbs und Subsuburbs der westlichen Welt. Vielleicht klang meine Ouvertüre negativer als gemeint. Auch zynischer vielleicht als beabsichtigt. Unser Protagonist Terje meint, zu schwarzem Humor sind nur intelligente Menschen fähig. Dass seine Schwester diese Spitze dennoch bemerkte, verwundert und erheitert ihn gleichermaßen. Terje ist kein unsympathischer Kerl. Er ist aufrichtig, ernsthaft, bemüht und in den Dingen, die er tut, sicher richtig gut. Wären da nicht, nicht, eh, diese Vergesslichkeit zum Beispiel? Zwei Stunden Autofahrt und alles Grübeln terra incognita? Alles vergessen. Ach, was! Morgen wieder Büro und gleich mit Turid noch über die schulischen Leistungen von Tochter Marit plaudern. Im Nature lesen und den Wecker auf acht Uhr stellen. Nein, halbsieben! In amerikanischen Filmen und norwegischen Romanen kommt an dieser Stelle ein aber. Aber! Obwohl Norwegen wie die Schweiz ist – nur reicher. Obwohl Das gute Leben ein geschützter Markenname der skandinavischen Union sein könnte, ist Terje unglücklich. Totunglücklich sogar. Im wörtlichen Sinne. Und so beginnt Carl Frode Tillers Roman ‚Der Beginn‘ mit dem Ende. Dem Ende des Lebens und vielleicht auch dem richtig großen Anfang vom Ende. Denn, soviel sei verraten: ‚Der Beginn‘ ist keineswegs zur Erheiterung, geschweige denn inneren Erbauung geschrieben. Was der Gewinner des Literaturpreises der Europäischen Union 2017 veröffentlichte und nun auf deutsch erscheint, ist harter Tobak, liebe Schlagerfreunde aus Nord-Neukölln, liebe Easyjet-Wochenend-Shopping-Hopper. ‚Der Beginn‘ sind Szenen einer Ehe. Ein Roman, der wichtig ist. So wichtig, dass er lang an ‚Freiheit‘ von Jonathan Franzen heranreicht, was die Bewahrung der Schöpfung anbelangt. ‚Der Beginn‘ sind Szenen einer Ehe, gerade weil nicht der Lust nach kleinbürgerlichem Drama voyeuristisch stattgeben wird. ‚Der Beginn‘ erzählt von der Volkskrankheit Depression, ohne mit Alltäglichem zu belehren. Ohne dozierend auf das gute Leben im falschen zu verweisen. Oder die Selbstoptimierung von Terje und den Druck, nicht mehr zu schaffen, was man schaffen will. Carl Frode Tiller hat einen mutigen Roman geschrieben, der in seiner Sprache und Ambiguität eben genau das tut und kann: Hinsehen, beschrieben, stehenlassen. Und wir Leser lesen Seite um Seite, welcher Schritt welche Folgen zeitigt. Wissenschaftlich exakt. Wie welches Verhalten Kraft raubt und warum. Wie Reaktionen Gegenreaktionen auslösen. Manchmal gestelzt, gezwungen, aber nie neben der Spur. Klimakrise gleich innere Entfremdung. Artensterben synonym für kranke Herzen. Und umgekehrt! Mein Fazit: ‚Der Beginn‘ sind 343 Seiten Heiterkeit in dunkler Stunde. Für Mut und Mutige und Lebensbejahung. Eine tief empathische Erzählung, die lohnt, auch wenn es so manches auszuhalten gilt. Ein Roman der leisen Töne. Über Entscheidungen und Entscheiden. Über Wege und Gabelungen und Mut, Wege zu gehen. Mit stetem Grundrauschen des Wasserkraftwerks im Biosphärenreservat der Neurosen. Meine Leseempfehlung für all jene, die Abkühlung wünschen!

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