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Rezension zu
Gott wohnt im Wedding

Berlin, Ecke Leopoldplatz

Von: Michael Kuhl
08.07.2019

Wussten Sie, dass sich auf dem heutigen Nettelbeckplatz um 1280 das Rittergut Weddinge befand? Und dass am Ort der Neuen Nazarethkirche bereits im 16. Jahrhundert ein Gotteshaus stand. Wüst gegangen, aber immerhin. Und dass um 1600 der kurfürstliche Oberkämmerer, Hieronymus Scheck, 50 Flurstücke vor den Toren Berlins erwarb? Also wirklich weit vor den Toren, um die verlassenen, die alten Felder und Wiesen wiederzubeleben? Und dass dort, wo sich der sogenannte Verlohrene Garten befand, laut Hobrecht-Plan die Utrechter Straße angelegt wurde. Das wussten Sie nicht? Ich auch nicht. Allein wegen dieser ausgezeichneten, stadthistorischen Recherche und wunderbaren Schilderungen lohnt die Lektüre von ‚Gott wohnt im Wedding‘. Doch alles nach der Reihe. Regina Scheer erzählt in ihrem Roman die Geschichte des ältesten Mietshauses der Utrechter Straße. Verwoben im Geflecht zwischen Müller-, See- und Reinickendorfer Straße, entwirft die Autorin ein historisches Kaleidoskop, das an manchen Stellen leuchtet, manchmal glänzt, vielerorts jedoch das Schicksal der Hausbewohner in dunklen Tönen zeichnet. In stumpfen Farben, die ohne Schnörkel, aber emphatisch, wenig unklar lassen. Vieles bewusst und manches, wovon man nicht wissen will. Scheer konstruiert auf 413 Seiten zwei Handlungsstränge, die sich gegenseitig bedingen, dennoch getrennt zu betrachten sind. Der erste Strang handelt von Gertrud Rombergs Leben, der ältesten Bewohnerin des Hauses. Und von Leo Lehmann. Zusammen mit Manfred Neumann lebte Leo bis 1945 im Untergrund. Bei Gertrud fanden die beiden jüdischen Männer Versteck. Gegenstand ist eine deutsch-jüdische Dreiecksbeziehung im roten Wedding, der 13 Jahre lang ziemlich braun war. Leo seinerseits ist Kommunikator zur Gegenwart. Mit seiner Enkelin besucht Leo seine Geburtsstadt – Berlin –, um Nira vom Leben ihres Großvaters an Ort und Stelle zu berichten. Der zweite Stang befasst sich mit den wechselnden Bewohnern des Hauses. Und mit dem Wedding im Allgemeinen, der nie eine vornehme Gegend war. Wer heute das Privileg hat, Kunde in der Sickingstraße zu sein (Achtung, Moabit!), hat es oft besser getroffen als so manche Romanfigur. Anders formuliert verhandelt die Autorin im zweiten Strang die Herausforderungen europäischer Sozialpolitik anhand mehrerer Roma-Familien, wobei sie nicht selten ins Seichte gleitet. Szenen also, die nur bedingt gelingen. Während Leos wechselvolles Leben, seine Verstrickungen, die ambivalenten Gefühle und Berichte aus dem Leben im Untergrund, die Rückschau auf Isreal und die Jahre im Kibbuz literarisch Haute Cuisine sind, geriet das Leben der Roma-Familien zur lauwarmen Kartoffelsuppe. Wat? Kartoffelsuppe? Passt janz hervorragend in’n Wedding. Wie dit Feinste vom neuen Bio-Vejaner. Mit manchen Längen und dünnen Schmonzetten ist Scheer ein Roman geglückt, der so hart an der Grenze ist, wie der Wedding es immer war. An der Grenze deshalb, weil er fesselt und gleichzeitig das benennt, was alltäglich zur Zumutung wird. Regina Scheer gibt denen, die sich vormals Kunden nannten und den Wedding erbauten, eine Stimme: Wanderarbeitern aus Osteuropa. Menschen, die keine Lobby haben. Die Autorin erzählt die Lebensschicksale vom Leopoldplatz heute und die, von vor 100 Jahren. Von moderner Sklaverei unter unser aller Augen und Entrechteten in Abbruchhäusern skrupelloser Immobilienfonds. Von Verfolgten aus sicheren Herkunftsländern ohne Bleibeperspektive, nicht nur im Großen Tiergarten. Aus der anderen U-Bahn-Perspektive eben. Wenn es nicht darum geht, zu geben, sondern zu bitten. Darüber hinaus liegt die große Wucht von ‚Gott wohnt im Wedding‘ im Schwungrad der Geschichte. Scheer treibt es an, dreht zurück und kommt im richtigen Moment zum Halt. Was Frank Schirrmacher über ‚Unser Mütter, unsere Väter‘ in der F.A.Z. zu schreiben wusste, gilt ebenso für diesen Roman. Er ist Ausschnitt des großen Ganzen und mahnt nicht, sondern ermutigt, zuzuhören. Zuzuhören, was die Großmütter und Großväter zu berichten haben. Was ihnen auch nach 80 Jahren auf der Seele brennt. Es dürfte eine ganze Menge sein. Und bald die letzte Gelegenheit. Was Scheer mit ‚Gott wohnt im Wedding‘ vorlegt, steht ‚Machandel‘ in nichts nach. Bebende Zeitgeschichte und ein Gesellschaftsroman, der nicht vor dem Schmuddeligen, dem Unangenehmen zurückschreckt. Auch nicht vor den schönen Epidosen des Lebens! Ein Roman, der die Geschichte des Weddings verhandelt, ohne mit erhobenem Zeigefinder, ohne gerümpfter Nase herablassend, vielleicht verschämt, gezwungen vorbeizuschauen. Wer diesen Roman las, wird den Wedding und seine Bewohner mit anderen Augen sehen. Und all die anderen Stadtbezirke dieser Republik, wo der goldene Löffel im Kindermunde nur ein schöner Traum bleibt. Ich finde: Das rechtfertigt eine Rezension, die deutlich länger wurde, als üblich. Für einen Roman, der unbedingt lohnt! PS: Was ‚Ein Mann will nach oben‘ für die Zeit bis 1935 ist, ist ‚Gott wohnt im Wedding‘ für alles danach. Für uns heute und das Jetzt. Mit viel Feingespür und Sorgfalt fürs Detail zeichnet Regina Scheer eine differenzierte Karte des Bezirks Berlin-Mitte, deren Anblick mich tief bewegt. Ohne Schwarz und Weiß und ohne klare Linien. Einem Bezirk der krassen Widersprüche, in dem sich rund 20 Prozent der Bewohner im Sozialleistungstransfer befinden und zehn Prozent ohne Abschluss die Schule verlassen. Wer beinahe täglich mit den Dingen, die Scheer beschreibt, konfrontiert ist, die Orte kennt, sich vielleicht sogar für diese engagiert, für die Menschen an diesen Orten, bleibt nicht ungerührt und wird betroffen. Als beispielsweise vom Max-Josef-Metzger-Platz die Rede ist und der dortigen Gedenkstele. Und mir Zeitungsberichte in Erinnerung kommen: Der Bezirk wolle keine Gelder für die Beleuchtung dieser Stele bereitstellen. Das sind die Momente, die berühren. Berühren und gleichermaßen unverständlich sind. Derartiges regt auf und an. Zum Denken und Nachdenken und zum Hinsehen zu den Menschen und ihren Orten.

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