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Rezension zu
Dopesick

Das Opium des Volkes

Von: Franziska_J
26.08.2019

„Bei Amerikanern unter fünfzig sind Überdosen inzwischen die häufigste Todesursache. Es sterben daran mehr Menschen als durch Schusswaffen oder Autounfälle und mehr als auf dem Höhepunkt einer HIV-Epidemie.“ Öffentliche Toiletten, in denen sich Kanülenbehälter befinden, Bibliothekare, die Naloxon (ein Medikament, das die Wirkung von Opioiden aufhebt)verabreichen müssen und Abhängige, die ihre Familie in den Ruin treiben. Amerika befindet sich mitten in einer Epidemie. Alleine im Jahr 2018 starben in den USA täglich etwa 250 Menschen an Opioiden, also an Schmerzmitteln wie Oxycodon, Vicodin oder Fentanyl. Viele der Abhängigen bekamen die Medikamente anfangs infolge eines Unfalls oder einer Krankheit von ihrem Arzt verschrieben und kamen dann nicht mehr von ihnen los. Jahrzehntelang spielten profitgierige Pharmafirmen die Risiken dieser Mittel herunter, bewarben ihre Produkte aggressiv und nahmen damit leichtfertig den Tod unzähliger Menschen in Kauf. In ihrem erschütternden Buch Dopesick beschreibt Beth Macy, deren vorherige Bücher wie Truevine (2016) oder Many Years, Many Worlds (2014) bereits allesamt auf der New York Times-Bestsellerliste standen, wie Ärzte, Pharmakonzerne und das amerikanische Gesundheitssystem tausende Existenzen ruinieren und wie einige mutige Gegner den Kampf aufnehmen, indem sie sie große Pharmakonzerne verklagen oder Therapieangebote in Brennpunkten aufbauen. Die renommierte Autorin und Journalistin sprach mit Familienangehörigen, ehemaligen Süchtigen, Dealern, Ärzten, Therapeuten, Pflegepersonal, Richtern, Anwälten, den Strafverfolgungsbehörden und vielen anderen Institutionen. Eines wird dabei ganz deutlich: Die Opioidepidemie kennt keine gesellschaftlichen Schichten und keine Altersbegrenzung. Besonders schockierend sind die Einzelschicksale der jüngeren Abhängigen, die teilweise noch unter 20 waren, als sie an ihrer Sucht starben. Die Autorin berichtet zum Beispiel von Scott, einem sympathischen jungen Mann, der Sonnenblumen liebte und gerne für seine Freunde kochte. Seine Mutter ahnte lange Zeit nicht, dass ihr Sohn, der noch die Highschool besuchte, längst der Heroinsucht verfallen war. Doch dann fand sie eines Tages Nadeln in seinem Zimmer und obwohl sie alles tat, um Scott zu helfen, wöchentliche Drogentests bei ihm durchführen ließ und zu Hause alle Türen aushängte, damit er hier keine Drogen konsumieren konnte, war sie nicht in der Lage, sein Leben zu retten. Noch immer begreift sie es nicht und es sind Angehörige und besonders Eltern wie Scotts Mutter, die nun anderen Angehörigen und Süchtigen in diesem Kampf beistehen, den sie selbst nicht gewinnen konnten. Mit dieser Darstellung von Einzelschicksalen und einer entsprechenden Fotostrecke im Innenteil des Buches, verleiht sie der Epidemie ein Gesicht, lässt Betroffene zu Wort kommen und Daten und Fakten, die zuvor anonym erschienen, werden plötzlich bedrohlich real. „Bevor wir nicht verstehen, wie wir in diese Situation geraten konnten, wird Amerika ein Land bleiben, in dem es deutlich leichter ist, abhängig zu werden, als eine Therapie zu bekommen.“ Um zu verstehen, wie Amerika in diese Lage geraten konnte, stellt Macy auch die Geschichte des Opiums sowie die Kämpfe vor Gericht dar. Ursprünglich wurden Opioide Soldaten gegen ihre Kriegsleiden verschrieben, doch schon bald wurden sie gegen alle Beschwerden eingesetzt. Arzneimittel auf Opiumbasis wurden sogar bei Babys angewandt. Heroin wurde ihnen z.B. gegen Husten verabreicht. Immer wieder wurden kritische Stimmen laut, die vor dem erheblichen Suchtrisiko der Medikamente warnten, doch die mächtigen Pharmafirmen hielten den Klagen stand und kauften mit Geschenken, kostenlosen Reisen und teurem Essen weiterhin viele Ärzte, damit diese ihre Medikamente in Massen verschrieben. Nur sehr langsam und nach unzähligen Klagen von Angehörigen sowie Ärzten, die sich nicht kaufen ließen, verschärfte sich das Gesetz. Doch da war es für viele Menschen längst zu spät. Jedoch sind nicht nur Ärzte oder Pharmafirmen an der Epidemie schuld. Vielmehr krankt das gesamte amerikanische Gesundheitssystem, in dem die Behandlung mit Opioiden billiger und schneller ist als andere, natürliche Verfahren zur Schmerzbekämpfung, wie z.B. Akupunktur bei Rückenschmerzen. Die deutsche Ausgabe des Buches ist ergänzt um ein Nachwort von Prof. Dr. Christoph Stein, Arzt an der Charité Berlin. Er zeigt, dass sich die Opioidkrise keinesfalls auf die USA beschränkt. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist der Konsum von Schmerzmitteln enorm angestiegen. Stein konstatiert sogar, dass der Missbrauch von Opioiden in den USA, Europa und anderen Regionen mittlerweile in vergleichbarem Ausmaß stattfinde, denn das Betäubungsmittelgesetz, welches das Werben für verschreibungspflichtige Medikamente eigentlich verbietet, sei für Pharmafirmen leicht zu umgehen. Dopesick – ein sorgfältig recherchierter, facettenreicher und vor allem schockierender Bericht, der spannend ist wie ein guter Roman.

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